Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die verliebten Blumenkinder
1968/2018 Stefan Moses hat nicht nur Berühmtheiten wie Ernst Jünger und Peggy Guggenheim porträtiert. Vor 50 Jahren fing der Fotograf auch Schwabinger Hippies ein – eine Überraschung
München Die Wände leuchten orange, gelb oder violett. Und wenn man im richtigen Moment ins Literaturhaus kommt, läuft gerade einer dieser Songs vom ewigen Sommer in Kalifornien. In den 1960er-Jahren ließen sie Millionen junger Leute von einer besseren Welt träumen. „Love and Peace“, Liebe und Frieden, war die Botschaft, die man am besten mit Blumen im Haar weitertrug: von San Francisco, das der Folk-Barde Scott McKenzie in seiner sanften Hippie-Hymne verklärte, über die ganze USA bis ins alte Europa.
Und wer es damals im Süden Deutschlands nicht bis in die Staaten geschafft hatte, der ist nach München Schwabing getrampt, um in Kommunen ein neues Miteinander und vor allem viel freie Liebe auszuprobieren. Berührungsängste schien es sowieso nicht zu geben, auf den Bildern des Fotokünstlers Stefan Moses wird geküsst und gekuschelt, und manchmal sind gleich fünf, sechs WG-Bewohner auf ihrem Flokati ineinander verkeilt. Das Bedürfnis nach Wärme war groß unter den Kindern einer kriegstraumatisierten Elterngeneration.
Erstaunlich sind Moses’ Aufnahmen in mehrerlei Hinsicht. Denn sie vermitteln nicht nur das Gefühl und die „Vibrations“der Blumenkinder um die „Zeitwende 1968“, wie es im Ausstellungstitel heißt. Diese kleinen Serien sind selbst für MosesKenner eine Überraschung, zumal sie bis auf ein, zwei Beispiele nun in der Öffentlichkeit gezeigt werden.
Stefan Moses, der im August 90 Jahre alt wird, ist durch psychologisch präzise Porträts von Schauspielern, Schriftstellern, Philosophen, Politikern – man denke an Willy Brandt – und Künstlern bekannt geworden. Ernst Jünger, Peggy Guggenheim, Oskar Maria Graf (das berühmte Bild im Wald), Erich Kästner, Ilse Aichinger und noch viele mehr haben seinem Blick vertraut: Moses war ihnen ein wacher, unvoreingenommener sowie kulturund geistesgeschichtlich höchst versierter Gesprächspartner. Ein Intellektuellenund Künstler-Versteher könnte man sagen. Er war zugleich aber auch ein Porträtist der Deutschen, der sich in den 1960ern durch sämtliche Schichten fotografierte – vom Würstlverkäufer bis zum Firmendirektor. So lässt er natürlich auch an August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“denken.
Jugendkulturen spielten dabei bislang keine Rolle – umso mehr frappieren nun beseelt lächelnde Studentenväter mit Baby im Arm, Hippie-Mädchen in wallenden Maxikleidern und Flatterblusen sowie Sinnsucher mit Schlapphüten, langen Mähnen bzw. beachtlichen Afrolooks. Moses hat seine Blumenkinder auf Kunsthappenings und in Selbsterfahrungsgruppen gefunden oder einfach auf der Straße angeerstmals sprochen und vor sein typisches neutral-graues Theatertuch gebeten. Sieht man vom splitterfasernackten Friedensreich Hundertwasser einmal ab (1967 bei einer „Frauenbemalungs“-Aktion in der Münchner Galerie Hartmann), ist sein Personal anonym geblieben.
Nur eine Schöne mit brustwarzentiefem Dekolleté sei einst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen und hätte daraufhin mächtigen Ärger mit ihren Eltern bekommen, erklärt Ex-Museumsmann und Kulturfunktionär Christoph Stölzl, der als Vertrauter Moses’ die Schau mitbetreut hat. Weniger wegen der Offenherzigkeit, mehr wegen eines Joints, an dem die junge Frau genussvoll zog.
Wobei sich die harmlose HaschSession als Bildfolge langsam entwickelt: Im Gegensatz etwa zu Henri Cartier-Bresson, gibt es für Stefan Moses nicht den „moment décisif“, also den einen entscheidenden Augenblick, der alles aussagt. Deshalb hat er immer in Sequenzen fotografiert, das heißt, den „moment fugitif“eingefangen und kurze, eindringliche Geschichten in SchwarzWeiß erzählt. So, wie ein paar Takte aus McKenzies „San Francisco“halt doch mehr Flower-Power-Feeling rüberbringen als ein einzelner Gitarrenriff.
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Ausstellungsdauer bis 25. Februar, Öffnungszeiten: Mo. bis Mi. und Fr.
11 bis 19 Uhr, Do. bis 21.30 Uhr, Sa., So. und feiertags von 10 bis 18 Uhr im Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, Katalog acht Euro