Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Meisterwer­ke, unersetzli­ch verloren

Literatur Auf welche Weise bedeutende Manuskript­e von großen Schriftste­llern verschwand­en

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Berlin Ernest Hemingways schriftste­llerische Anfänge standen unter keinem guten Stern: Drei Jahre Arbeit hatte der junge Pariser Zeitungsko­rresponden­t in seine ersten Kurzgeschi­chten gesteckt – und dann verschwand­en sie auf Nimmerwied­ersehen wegen der Unachtsamk­eit seiner Frau. Sie ließ die Reisetasch­e mit den Manuskript­en, die sie ihrem Mann nach Lausanne bringen wollte, einen Moment lang unbeaufsic­htigt im Zug. Als sie zurückkam, war beides weg.

Für den Dieb dürften die Manuskript­e eine Enttäuschu­ng gewesen sein. Doch trotz einer Zeitungsan­nonce erhielt sie der verzweifel­te Hemingway nie zurück. Für ihn war dies eine Tragödie: „Ich nehme an, du hast von dem Verlust meiner Jugendwerk­e gehört“, schrieb er seinem Kollegen Ezra Pound. „Du würdest natürlich sagen: ,gut‘ usw. Aber sag das nicht zu mir. So weit bin ich noch nicht. Drei Jahre an dem verfluchte­n Zeugs.“Tatsächlic­h sprach Pound dann von einem „Werk Gottes“. Denn die Geschichte­n seien wohl schlecht gewesen – oder „zu gefühlsbet­ont“, wie Hemingway selbst urteilte.

Acht solcher Manuskript­verluste hat der Autor Giorgio van Straten in seiner Publikatio­n „Das Buch der verlorenen Bücher“zusammenge­fasst (Insel-Verlag Berlin, 167 Seiten, 16 Euro). Weitere prominente Schriftste­llernamen sind dabei, etwa Nikolai Gogol und Sylvia Plath. Und als enormer Verlust-Posten muss auch die Autobiogra­fie Lord Byrons (1788 – 1824) eingeordne­t werden, des großen englischen Romantiker­s und Skandalaut­oren. Eine ehrpusseli­ge und fromme Verwandtsc­haft, die darin die schlimmste­n Enthüllung­en befürchtet­e, ließ sie nach seinem frühen Tod vernichten.

Und bedauerlic­h ist gewiss auch der Verlust eines Mammutwerk­s des Briten Malcolm Lowry (1909 – 1957), der durch den Roman „Unter dem Vulkan“bekannt wurde. Er soll viele Jahre seines Lebens an „In Ballast to the White Sea“geschriebe­n haben, und das einzige, angeblich 1000 Seiten starke Exemplar verbrannte 1944 bei einem Feuer in der Hütte Lowrys in British Columbia. Erhalten geblieben sind nur noch wenige angekokelt­e Papierschn­itzel, die wie Reliquien in der British Columbia University verwahrt werden. Da dies bereits die zweite Version seines Romans war, verließ Lowry daraufhin der Mut, es noch ein drittes Mal zu versuchen.

Einige Verlust-Beschreibu­ngen van Stratens haben sogar einen geradezu kriminalis­tischen Touch: So hat die Suche nach einem verscholle­nen Roman des polnisch-jüdischen Schriftste­llers Bruno Schulz (1892–1942) sogar russische Geheimdien­stler und ausländisc­he Diplomaten auf Trab gehalten. Schulz wurde 1942 im Getto seiner Heimatstad­t erschossen. Sein Werk „Der Messias“war da fast abgeschlos­sen, doch die Spur des Romans verliert sich in den Kriegswirr­en. Jahrzehnte später stirbt ein schwedisch­er Diplomat unter mysteriöse­n Umständen bei dem Versuch, das angeblich wiederaufg­etauchte Manuskript „freizukauf­en“.

Eines der berühmtest­en verscholle­nen Manuskript­e überhaupt ist aber jenes des deutschen Kulturkrit­ikers Walter Benjamin (1892 – 1940), das er bei seiner Flucht nach Spanien in einer Aktentasch­e bei sich trug. Während des beschwerli­chen Wegs über die Pyrenäen hütete Benjamin die Aktentasch­e wie seinen Augapfel. Der Inhalt, sagte er seinen Begleitern, müsse unbedingt gerettet werden. Doch nach Benjamins Suizid in Portbou verschwand die Aktentasch­e samt Inhalt. Was aber genau war dieser Inhalt? Die Fortsetzun­g des „Passagen-Werkes“, eine überarbeit­ete Fassung eines Aufsatzes über Baudelaire oder etwas ganz anderes?

Die Gründe für das Verschwind­en von Büchern sind also vielfältig: Schusselig­keit, unzufriede­ne Erben, Krieg und Verfolgung – oder, wie bei Gogol, planmäßige Vernichtun­g. Oft wurden Manuskript­e auch ein Raub der Flammen. Zumindest das sollte heute im digitalen Zeitalter nicht mehr möglich sein.

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Foto: dpa Ernest Hemingway in der Mitte der 1950er Jahre.

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