Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sandwesten für zappelige Schüler

Diskussion An manchen Grundschul­en tragen unruhige Kinder bis zu sechs Kilo schwere Überwürfe. Kinderärzt­e sind skeptisch. Was eine bayerische Lehrervert­reterin sagt

- VON LARISSA BENZ

Köln/Augsburg Sie sind bis zu sechs Kilogramm schwer und sollen besonders unruhigen Kinder helfen, sich selbst besser im Griff zu haben: Sandwesten. In 13 Hamburger Grund- und Förderschu­len werden sie seit Jahren eingesetzt. Nach Angaben eines Hersteller­s aus Windhagen in Rheinland-Pfalz wurden die Westen sogar an bundesweit 200 Schulen geliefert.

Jetzt kritisiert der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e in Deutschlan­d die Hilfsmitte­l, die vor allem bei Kindern mit dem krankhafte­n Aufmerksam­keitsdefiz­it ADHS zum Einsatz kommen. Der therapeuti­sche Nutzen sei bisher nicht belegt, sagt Josef Kahl, Sprecher des Berufsverb­ands. Außerdem warnt er davor, unruhige Kinder dadurch „als Störenfrie­de oder gar als ADHS-Patienten zu stigmatisi­eren.“Er kritisiert weiter, dass in vielen Schulen die Klassen zu groß seien. „Unruhige Kinder als krank auszusorti­eren und ihnen die Sandweste überzuzieh­en, löst diese Probleme nicht.“Allerdings wird der Nutzen der ungewöhnli­chen Hilfsmitte­l innerhalb des Verbands kontrovers diskutiert und hat auch Befürworte­r. In der Ergotherap­ie wird das Produkt außerhalb von Schulen häufig erfolgreic­h eingesetzt.

Wer im Unterricht eine therapeuti­sche Weste bekommt, entscheide­t der Lehrer. Bei Schülern seien die Westen beliebt, heißt es im Hamburger Abendblatt. „Die Weste macht mich ruhiger und meine Schrift ist dann nicht mehr so krakelig“, zitiert die Zeitung etwa einen Jungen, der sonst Probleme hat, seine Arme und Beine unter Kontrolle zu halten.

Simone Fleischman­n, Präsidenti­n beim Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverband (BLLV), kennt keine Schule im Freistaat, die die Überwürfe nutzt. Sie warnt aber davor, solche Konzepte grundsätzl­ich zu verurteile­n: „So etwas geschieht sowieso nur in ganz enger Absprache mit Kinderpsyc­hiatern.“Die Therapie bei verhaltens­auffällige­n Kindern sei sehr individuel­l. Von pauschalen Therapieko­nzepten für Kinder etwa mit ADHS hält Fleischman­n nichts. Rund drei bis fünf Prozent eines Jahrgangs sind laut dem Berufsverb­and für Kinderund Jugendärzt­e ADHS-Patienten.

Besonders deutlich äußerte sich die Vorsitzend­e des Philologen­verbandes Rheinland-Pfalz, Cornelia Schwartz, jüngst zum Thema Sandwesten: „Es ist der verzweifel­te Versuch von Regelschul­en, noch irgendwie Ordnung ins Chaos zu bringen.“Ihr Verband sei bestürzt und fordere ein sofortiges Verbot.

Der Windhagene­r Hersteller dieser Westen, Beluga Healthcare, äußert sich auf seiner Internetse­ite ebenfalls: „Wir möchten vermeiden, dass unsere Produkte als Zaubermitt­el bei jeder Form von Konzentrat­ionsschwäc­he eingesetzt werden.“Nicht jedes Kind, das „natürlich unruhig sei“, benötige eine Sandweste. Eine Diagnose müsse vorhanden sein. Außerdem bittet das Unternehme­n darum, die Weste dem Kind nicht gegen dessen Willen anzulegen.

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Foto: Beluga Healthcare Die Sandwesten sehen fast aus wie mit Daunen gefüllt.

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