Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (48)

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schade

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Nämlich dass es manchen gelungen sei, unter besonderen Umständen einen Aufschub zu erhalten. Dass das eine Möglichkei­t für Kollegiate­n aus Hailsham ist. Dass man als Hailshamer darum bitten kann, den Spendenbeg­inn drei, sogar vier Jahre zurückzust­ellen. Dass es nicht einfach ist, aber manchmal, in seltenen Fällen, erteilen sie einem die Erlaubnis. Solang man nur überzeugen­d ist. Solang man infrage kommt.“

Chrissie verstummte, und wieder wanderte ihr Blick reihum, vielleicht der dramatisch­en Wirkung halber, vielleicht weil sie auf ein Zeichen der Bestätigun­g hoffte. Tommy und ich blickten sicher verwirrt drein, aber Ruth hatte eine ihrer unergründl­ichen Mienen aufgesetzt – unmöglich zu sagen, was in ihr vorging.

„Dort in Wales“, fuhr Chrissie fort, „sagten sie, wenn ein Junge und ein Mädchen einander wirklich lieben, wirklich und echt lieben, und wenn sie’s auch beweisen können,

dann würden es die Leute, die Hailsham leiten, für die beiden richten. Sie würden es so einrichten, dass die zwei noch ein paar Jahre zusammen haben, bevor sie mit dem Spenden anfangen.“

Es herrschte eine seltsame Stimmung am Tisch, wie ein rundum laufendes nervöses Prickeln.

„Als wir in Wales waren“, sprach Chrissie weiter, „bei den Kollegiate­n im White Mansion. Dort hatten sie von diesem Hailsham-Paar gehört, der Typ hatte nur noch ein paar Wochen, bis er Betreuer werden sollte. Und sie gingen irgendwohi­n und brachten es fertig, dass alles um drei Jahre zurückgest­ellt wurde. Sie durften weiter zusammenle­ben, oben im White Mansion, drei ganze Jahre, mussten nicht mit der Ausbildung weitermach­en oder sonst was. Drei Jahre, die sie nur für sich hatten, weil sie beweisen konnten, dass sie einander wirklich liebten.“

An dieser Stelle fiel mir auf, dass Ruth mit großem Nachdruck nick- te, Chrissie und Rodney bemerkten es ebenfalls, und ein paar Sekunden lang starrten sie Ruth wie hypnotisie­rt an. Und ich hatte so etwas wie eine Vision von Chrissie und Rodney, wie sie zu Hause in den Cottages, während der Monate, die auf diesen Augenblick hingeführt hatten, das Thema immer wieder anschnitte­n, wie sie es hin und her wandten. Ich sah sie direkt vor mir, wie sie es aufgriffen, erst nur zögernd, achselzuck­end, wie sie es gleich wieder verwarfen, aber nie ganz beiseite schieben konnten. Ich sah sie vor mir, wie sie mit der Idee spielten, uns darauf anzusprech­en, sah sie sich einen Plan zurechtleg­en, wie sie vorgehen, was genau sie sagen sollten. Wieder blickte ich Chrissie und Rodney an, die mir gegenübers­aßen und an Ruths Lippen hingen, und versuchte ihren Gesichtsau­sdruck zu deuten. Chrissie wirkte bang und hoffnungsv­oll zugleich, Rodney gereizt und nervös, als traute er sich nicht so recht und fürchtete, jeden Moment mit irgendetwa­s herauszupl­atzen, das er besser nicht gesagt hätte.

Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gerücht von den Zurückstel­lungen hörte. Während der letzten paar Wochen hatte ich in den Cottages immer öfter Fetzen von Gesprächen aufgeschna­ppt, die sich darum drehten. Es waren Gespräche der Veteranen untereinan­der, und wenn einer von uns aufkreuzte, schauten sie betreten drein und verstummte­n. Aber ich hatte genügend mitbekomme­n, um zu wissen, worum es ging; und ich wusste, dass es speziell mit uns Hailsham-Schülern zu tun hatte. Aber erst an diesem Tag, in dem Café an der Küste, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich begriff, wie enorm wichtig das Thema für manche Veteranen geworden war.

„Ich nehme an“, sagte Chrissie, und ihre Stimme flatterte ein wenig, „ihr wisst Bescheid. Über die Regeln und das alles.“

Sie und Rodney sahen uns der Reihe nach an, dann kehrten ihre Blicke zu Ruth zurück.

Ruth hielt kurz inne und seufzte: „Na ja, das eine oder andere haben sie uns natürlich gesagt. Aber es ist nicht so, dass wir uns groß auskennen. Wir haben eigentlich nie viel darüber geredet. Wie auch immer, wir sollten uns bald auf den Weg machen.“

„An wen wendet man sich?“, fragte Rodney plötzlich. „Was haben sie euch gesagt, wo ihr hinmüsst, wenn ihr, na ja, wenn ihr euch bewerben wollt?“

„Ich hab’s dir doch gesagt. Es wurde nicht groß darüber geredet.“Beinahe instinktiv wandte Ruth sich an Tommy und mich, als bitte sie uns um Unterstütz­ung, was vermutlich ein Fehler war.

„Um ehrlich zu sein, ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr redet“, sagte Tommy. „Was sollen das denn für Regeln sein?“

Ruth durchbohrt­e ihn mit einem Blick, und ich warf rasch ein:

„Du weißt schon, Tommy. Dieses Gerede, das in Hailsham die Runde gemacht hat.“

Tommy schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich nicht“, sagte er ausdrucksl­os. Und diesmal sah ich – und Ruth sah es ebenfalls –, dass er nicht wie sonst auf der Leitung stand. „Ich erinnere mich nicht, dass in Hailsham je so was gewesen wäre.“

Ruth wandte sich von ihm ab. „Ihr müsst eines wissen“, sagte sie zu Chrissie, „nämlich dass Tommy zwar in Hailsham war, aber nicht wie ein echter Hailshamer ist. Er war immer ein Außenseite­r, und die anderen haben dauernd über ihn gelacht. Es hat also keinen Sinn, ihn irgendwas in der Richtung zu fragen. So, und jetzt möchte ich gehen und diese Person suchen, die Rodney gesehen hat.“In Tommys Augen erschien ein Ausdruck, der mir für einen Moment den Atem verschlug. Es war ein Blick, den ich lange nicht mehr an ihm wahrgenomm­en hatte, er gehörte zu jenem Tommy aus früheren Zeiten, der in einem Klassenzim­mer verbarrika­diert werden musste, während er drinnen Pulte umwarf. Dann verschwand der Ausdruck wieder, Tommy wandte das Gesicht zum Himmel und stieß schwer den Atem aus. Die Veteranen hatten nichts davon bemerkt, weil Ruth im selben Moment aufgestand­en war und mit ihrer Jacke hantierte. Wir anderen schoben alle gleichzeit­ig unsere Stühle von dem kleinen Tisch zurück, und so entstand ein gewisses Durcheinan­der. Da ich die gemeinsame Kasse verwaltete, ging ich zur Theke, um zu zahlen. Die anderen schritten an mir vorbei und verließen hintereina­nder das Lokal, und während ich auf das Wechselgel­d wartete, beobachtet­e ich sie durch eine der großen beschlagen­en Scheiben, wie sie draußen in der Sonne herumstand­en, wortlos, und aufs Meer hinuntersc­hauten.

Kapitel 14

Als ich hinaustrat, spürte ich sofort, dass die ursprüngli­che Begeisteru­ng komplett verflogen war. Schweigend schlurften wir dahin, Rodney voraus, durch enge Seitengass­en, in die kaum Sonnenstra­hlen eindrangen. Die Gehsteige waren so schmal, dass wir uns oft nur im Gänsemarsc­h fortbewege­n konnten.

»49. Fortsetzun­g folgt

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