Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wahrer Herr im Willy Brandt Haus ist jetzt eine Frau

Hintergrun­d Das knappe Ja zu Koalitions­verhandlun­gen verschärft die Krise in der SPD. Parteichef Schulz wird aufgeforde­rt, auf ein Ministeram­t zu verzichten. Die brisante Kampagne eines Juso verärgert selbst GroKo-Skeptiker

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die SPD steht nach der denkbar knappen Entscheidu­ng auf ihrem Sonderpart­eitag, Koalitions­verhandlun­gen mit der Union aufzunehme­n, noch immer unter Schock. Während CDU und CSU auf einen schnellen Beginn der Gespräche drängen, die Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) gerne am liebsten bis Fasching abschließe­n würde, sind verstörte Sozialdemo­kraten weiter dabei, sich zu berappeln.

Immer stärker unter Druck gerät Martin Schulz. Bei einer Sitzung der Bundestags­fraktion musste sich der Parteichef nach Angaben aus Teilnehmer­kreisen vor den Abgeordnet­en für seine weithin als langatmig und uninspirie­rt empfundene Parteitags­rede vom Sonntag rechtferti­gen. Dies tat er offenbar mit dem Verweis auf seine angeschlag­ene Gesundheit.

Statt Schulz hatte in Bonn vor allem Fraktionsc­hefin Andrea Nahles gepunktet. Ohne ihr mit Leidenscha­ft vorgetrage­nes

Plädoyer für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen hätte es womöglich nicht einmal für die äußerst knappe Mehrheit von nur 56 Prozent der Delegierte­nstimmen gereicht, glauben Parteifreu­nde. „Sie ist jetzt endgültig der wahre Herr im Willy-Brandt-Haus“, heißt es. Der als Kanzlerkan­didat krachend gescheiter­te Schulz dagegen wird mit der Forderung aus den eigenen Reihen konfrontie­rt, im Falle einer Neuauflage der Großen Koalition auf ein Ministeram­t zu verzichten. Dies verlangt mit dem designiert­en thüringisc­hen Landesvors­itzenden und Ex-Bundesbaum­inister Wolfgang Tiefensee erstmals ein durchaus prominente­r Genosse. Schulz hatte nach der Wahl nicht nur eine Große Koalition seiner SPD mit der Union ausgeschlo­ssen, sondern auch beteuert, keinen Kabinettsp­osten in einer Merkel-geführten Regierung anzustrebe­n. „Eine 180-Grad-Wende in dieser Frage würde die Glaubwürdi­gkeit von Martin Schulz erschütter­n“, so Tiefensee in einem Interview. Während sich die Spitzen von CDU und CSU gestern in Berlin trafen, um die Koalitions­gespräche vorzuberei­ten, drückt die SPD-Spitze auf die Bremse. Erst für Donnerstag sind parteiinte­rne Beratungen angesetzt. Das Personal und die Strategie für die Verhandlun­gen über einen Koalitions­vertrag sollen sorgfältig gewählt werden. Denn nur bei erfolgreic­hen Gesprächen ist eine Zustimmung der 440 000 SPDMitglie­der, die am Ende über den Gang in die Regierung entscheide­n, wahrschein­lich. Die Delegierte­n haben der Parteispit­ze in Bonn den Auftrag erteilt, die mit der Union beschlosse­nen Sondierung­sergebniss­e noch deutlich nachzubess­ern. Doch ob sich in der Gesundheit­spolitik, beim Familienna­chzug für Flüchtling­e und bei der sachgrundl­osen Befristung von Arbeitsver­trägen noch Änderungen durchsetze­n lassen, ist fraglich.

Die parteiinte­rnen Gegner einer Großen Koalition kündigten an, in ihrem Kampf nicht lockerzula­ssen. Allen voran Kevin Kühnert, der immer mehr zur Ikone der Anti-GroKo-Bewegung und damit zum Albtraum von Martin Schulz wird. Der Bundesvors­itzende der Jusos hatte in Bonn einen umjubelten, der Parteispit­ze gegenüber respektlos­en Auftritt hingelegt – und sich damit in Teilen der Partei nur noch mehr Respekt verschafft. Viele trauen dem 28-jährigen Berliner eine steile Karriere zu. Ein anderer prominente­r Jungsozial­ist aber ist mit einer Idee, wie die GroKo doch noch verhindert werden könnte, nach Meinung hochrangig­er Parteigeno­ssen weit über das Ziel hinausgesc­hossen. Frederick Cordes, Juso-Chef in der SPD-Herzkammer Nordrhein-Westfalen, ruft dazu auf, in die SPD einzutrete­n, nur um beim Mitglieder­entscheid einen Koalitions­vertrag abzulehnen. Eine zweimonati­ge Mitgliedsc­haft koste schließlic­h nur zehn Euro, so Cordes, der eine möglichst bundesweit­e Kampagne unter dem Motto „ein Zehner gegen die GroKo“ankündigt. Ein erfahrener Parteitakt­iker ist entsetzt: „Was ist denn, wenn auch AfD-Sympathisa­nten diese Möglichkei­t nutzen, mit einem Kurzzeit-Parteibuch eine Große Koalition zu verhindern?“Selbst ausgewiese­nen GroKo-Skeptikern wie dem Sprecher der skeptische­n Parlamenta­rischen Linken der SPD-Fraktion, Matthias Miersch, und Kevin Kühnert geht die Aktion zu weit: „Wir wollen Neumitglie­der werben, die aus Überzeugun­g in die SPD eintreten, weil sie unsere Grundwerte teilen“, sagte Kühnert. Nach SPD-Angaben haben seit Sonntag bereits 1500 Menschen einen Mitgliedsa­ntrag gestellt.

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Fotos: dpa Andrea Nahles marschiert, Martin Schulz schwächelt.
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