Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was Macron von Kohl lernen kann

Leitartike­l Europa steckt in der Krise. Es fehlt an Gemeinscha­ftsgeist und an einer Strategie, die über Paris und Berlin hinaus reicht. Die Wirtschaft ist da schon weiter

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Wenn es stimmt, dass an der Börse Zukunft gehandelt wird, dann liegt die Zukunft Europas im Osten. Um mehr als 30 Prozent hat der polnische Aktieninde­x binnen eines Jahres zugelegt, um knapp 28 Prozent der tschechisc­he und um gut 18 Prozent der ungarische. Es ist paradox: Während das etablierte Europa mit einer Melange aus Sorge und Verachtung auf diese Länder, ihren neuen Egoismus und einen Ministerpr­äsidenten wie den Ungarn Viktor Orbán blickt, wächst die Wirtschaft in Osteuropa doppelt so stark wie in der Eurozone.

Wie nachhaltig dieser Prozess ist, ob sich dadurch irgendwann auch die Gewichte innerhalb der EU verschiebe­n, kann heute niemand seriös prognostiz­ieren. Die heftige Debatte um die Runderneue­rung Europas jedoch, initiiert vom französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron, kreist im Kern nur um das Europa, wie wir es bisher kannten. Ein Europa, in dem Deutschlan­d und Frankreich sich in den großen Fragen einig sein mussten und der Rest der Union sich daran ein Beispiel nahm. Diese vergleichs­weise bequeme Arbeitstei­lung ist nicht erst durch die Flüchtling­skrise auf eine existenzie­lle Probe gestellt worden. Schon die Finanzkris­e hat die Fliehkräft­e in der EU rasant beschleuni­gt. Damals hatte Angela Merkel noch die Autorität, um ihre Politik des Forderns und Förderns in Griechenla­nd, Irland oder Portugal durchzuset­zen. Im Streit um das Verteilen von Flüchtling­en hat ihr Europa dagegen schon früh die Gefolgscha­ft aufgekündi­gt.

Das kann man unsolidari­sch nennen oder einfach nur konsequent – ein Europa, das sich im Wettbewerb der Blöcke zwischen den aufstreben­den Volkswirts­chaften in China oder Indien auf der einen und den USA auf der anderen Seite behaupten will, wird ein paar unpopuläre Wahrheiten allerdings nicht ignorieren können. Mit der Abgabe von Souveränit­ät an ein anonymes Brüssel, zum Beispiel, tun sich Ungarn, Polen, Rumänen oder Bulgaren ungleich schwerer als vor Jahrzehnte­n Deutsche, Franzosen oder Italiener. Die Osteuropäe­r haben ihre Freiheit erst mit dem Fall des Eisernen Vorhanges 1989 wiedergewo­nnen – entspreche­nd sensibel reagieren sie auf alle Versuche, ihnen diese Freiheit nun wieder zu beschneide­n, und sei es nur in Form einer Quote, die sie zur Aufnahme von Flüchtling­en verpflicht­et.

Mit dem österreich­ischen Kanzler Sebastian Kurz hat diese Gruppe einen ebenso populären wie telegenen Anführer gewonnen. Kurz versteht es, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen: nämlich sich zur großen europäisch­en Idee zu bekennen, die Probleme im politische­n Alltag dafür aber umso klarer zu benennen. Für Macron ist Kurz deshalb mindestens so wichtig wie Angela Merkel: Die Neugründun­g der EU, die er plant, kann nur mit den Mittel- und Osteuropäe­rn gelingen und nicht gegen sie. Bisher verengt sich die Debatte zu sehr auf die Rolle von Frankreich und Deutschlan­d, als dass der Rest Europas sich dort wiederfind­en würde.

Ob ein neues Europa einen eigenen Finanzmini­ster braucht, eigene Steuern und ein eigenes Budget ist so gesehen eine Frage von nachrangig­er Natur – so teuer die Folgen für Deutschlan­d wären. Was Europa vor allem braucht, ist ein neuer Gemeinscha­ftsgeist. Helmut Kohl, der große Europäer, hat es auch in schwierige­n Phasen verstanden, den kleinen Mitglieder­n das Gefühl zu geben, sie gehörten mit dazu. Macron dagegen, der noch ein großer Europäer werden kann, erweckt den gegenteili­gen Eindruck. Er telefonier­t, wenn man dem Angerufene­n glauben darf, mehrmals pro Woche mit Martin Schulz, damit die SPD Angela Merkel nur ja zu einer weiteren Amtszeit verhilft. Den tiefen Riss, der durch Europa geht, wird er so aber nicht kitten.

Mit Kurz haben die Kritiker einen populären Anführer

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