Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie Erziehung in der Familie funktionieren kann
Interview Der Experte und Kinderarzt Herbert Renz-Polster spricht morgen in Meitingen über Erziehung und das, was der Nachwuchs am meisten braucht
„Erziehung ist die Fläche unter der Kurve des Lebens.“So definiert Herbert Renz-Polster das, was im Alltag einer Familie passiert. Das, was heute als Erziehung bezeichnet wird, ist keine Technik, sondern muss – in den Augen des Autors, Wissenschaftlers und Arztes – auf Verständnis basieren.
Meitingen „Erziehung ist die Fläche unter der Kurve des Lebens.“So definiert Herbert Renz-Polster das, was im Alltag in einer Familie passiert. Der Umgang miteinander. Das Leben. Das, was heute als Erziehung bezeichnet wird, ist keine klar zu definierende Technik, sondern muss – in den Augen des Autors, Wissenschaftlers und Arztes – auf Verständnis basieren. Auf dem Verständnis für die eigenen Kinder. Im Interview gibt er Einblick in seinen Ansatz, der weit entfernt ist von Ratschlägen, Tipps und Empfehlungen.
Herr Renz-Polster, was unterscheidet Ihren Ansatz, der auch beim Vortrag am kommenden Donnerstag im Fokus stehen wird, von anderen?
Renz Polster: Klare Regeln, Tipps und Techniken zu empfehlen, das liegt mir fern. Die Menschen sind dafür viel zu verschieden. Deswegen gibt es keine Erziehungstipps, sondern den Appell: Versteht eure Kinder, dann klappt’s auch zu Hause.
Gibt’s denn einen Denkanstoß, wie Kinder ticken?
Renz Polster: Kinder brauchen Zeit, Begegnung, Freiraum und die Option, zu spielen. Sie müssen sich anstrengen, um mit sich und anderen klarzukommen. Sie brauchen Widerstände und sie sind gerne kreativ. Sie brauchen das Gefühl von Heimat, Geborgenheit und Sicherheit. Was sie nicht brauchen, ist der Funktionszwang, der im Leben eines Erwachsenen den Tag bestimmt.
Also Wecker nicht stellen? Nicht zur Arbeit fahren? Nicht funktionieren? Renz Polster: Natürlich fällt das Korsett des Alltags nicht, nur weil jemand meinen Vortrag besucht. Allerdings ist es mir wichtig, zum Nachdenken anzuregen, denn es gibt andere Möglichkeiten. Im Fo- kus sollte die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes stehen. Und der Zwang, zu funktionieren wie im Erwachsenenprogramm, schwächt die Kinder.
Was läuft in Ihren Augen heutzutage in der Erziehung schief?
Renz Polster: Ich bin kein Pessimist, und dazu gibt es keine pauschale Antwort. Es gibt heute viele verschiedene Eltern. Das größte Gegensatzpaar sind diejenigen, die das Zusammenleben auf Vertrauen und Verständnis bauen, und auf der anderen Seite diejenigen, die Macht und Kontrolle deutlich in ihr Verhalten integrieren.
Das ist der tiefste Graben, der be- beim Umgang mit Babys deutlich wird.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Renz Polster: Der Mythos, dass ein Kind durch Nähe verwöhnt wird, ist hierfür ein gutes Beispiel. Denken wir an diese Situation: Ein Baby schreit. Während die eine Elterngruppe zum Kind geht und argumentiert, das schaffe Vertrauen, würde die anderen nicht reagieren und erklären, das Kind manipuliere die Eltern nur. De facto ist der Wunsch der Kinder nach Nähe aber einfach nur ein uraltes Programm der Kinder.
Uraltes Programm? Renz Polster: Den Hang zum Fremdeln. Das Bedürfnis nach Nähe. Sogar das Problem beim Gemüseessen – all das sind die uralten Programme, mit denen sich Kinder selbst schützen.
Dass Fremdeln und das Bedürfnis nach Nähe Schutzmechanismen sind, leuchtet ein. Doch wie funktioniert die These beim Gemüseessen?
Renz Polster: Zum einen ist es die Angst vor Neuem. Und zum anderen ist es der bittere Geschmack, den sie empfinden und bei dem der Körper signalisiert: Bitter könnte auch giftig sein. Entscheidend ist dann, wie die Umwelt reagiert. Wenn die Oma beim Brokkoli-Essen das Gereits sicht verzieht, wird’s schwierig für das Gemüse.
Was wünschen Sie den Eltern, die Ihren Vortrag besuchen?
Renz Polster: Ich möchte, dass sie staunen, wenn sie nach Hause gehen. Und, dass sie verstehen, dass es enorm schwierig für Kinder ist, die Gegensatzpaare Freiheit und Bindung zu vereinbaren. Das Wichtigste sollte immer sein: Kinder sollen das, was sie tun, mit leuchtenden Augen tun.
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Info Der Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Herbert Renz Polster spricht am Donnerstag, 1. Februar, um 19 Uhr im Bürgersaal Meitingen.