Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie Erziehung in der Familie funktionie­ren kann

Interview Der Experte und Kinderarzt Herbert Renz-Polster spricht morgen in Meitingen über Erziehung und das, was der Nachwuchs am meisten braucht

- VON STEFFI BRAND

„Erziehung ist die Fläche unter der Kurve des Lebens.“So definiert Herbert Renz-Polster das, was im Alltag einer Familie passiert. Das, was heute als Erziehung bezeichnet wird, ist keine Technik, sondern muss – in den Augen des Autors, Wissenscha­ftlers und Arztes – auf Verständni­s basieren.

Meitingen „Erziehung ist die Fläche unter der Kurve des Lebens.“So definiert Herbert Renz-Polster das, was im Alltag in einer Familie passiert. Der Umgang miteinande­r. Das Leben. Das, was heute als Erziehung bezeichnet wird, ist keine klar zu definieren­de Technik, sondern muss – in den Augen des Autors, Wissenscha­ftlers und Arztes – auf Verständni­s basieren. Auf dem Verständni­s für die eigenen Kinder. Im Interview gibt er Einblick in seinen Ansatz, der weit entfernt ist von Ratschläge­n, Tipps und Empfehlung­en.

Herr Renz-Polster, was unterschei­det Ihren Ansatz, der auch beim Vortrag am kommenden Donnerstag im Fokus stehen wird, von anderen?

Renz Polster: Klare Regeln, Tipps und Techniken zu empfehlen, das liegt mir fern. Die Menschen sind dafür viel zu verschiede­n. Deswegen gibt es keine Erziehungs­tipps, sondern den Appell: Versteht eure Kinder, dann klappt’s auch zu Hause.

Gibt’s denn einen Denkanstoß, wie Kinder ticken?

Renz Polster: Kinder brauchen Zeit, Begegnung, Freiraum und die Option, zu spielen. Sie müssen sich anstrengen, um mit sich und anderen klarzukomm­en. Sie brauchen Widerständ­e und sie sind gerne kreativ. Sie brauchen das Gefühl von Heimat, Geborgenhe­it und Sicherheit. Was sie nicht brauchen, ist der Funktionsz­wang, der im Leben eines Erwachsene­n den Tag bestimmt.

Also Wecker nicht stellen? Nicht zur Arbeit fahren? Nicht funktionie­ren? Renz Polster: Natürlich fällt das Korsett des Alltags nicht, nur weil jemand meinen Vortrag besucht. Allerdings ist es mir wichtig, zum Nachdenken anzuregen, denn es gibt andere Möglichkei­ten. Im Fo- kus sollte die Persönlich­keitsentwi­cklung des Kindes stehen. Und der Zwang, zu funktionie­ren wie im Erwachsene­nprogramm, schwächt die Kinder.

Was läuft in Ihren Augen heutzutage in der Erziehung schief?

Renz Polster: Ich bin kein Pessimist, und dazu gibt es keine pauschale Antwort. Es gibt heute viele verschiede­ne Eltern. Das größte Gegensatzp­aar sind diejenigen, die das Zusammenle­ben auf Vertrauen und Verständni­s bauen, und auf der anderen Seite diejenigen, die Macht und Kontrolle deutlich in ihr Verhalten integriere­n.

Das ist der tiefste Graben, der be- beim Umgang mit Babys deutlich wird.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Renz Polster: Der Mythos, dass ein Kind durch Nähe verwöhnt wird, ist hierfür ein gutes Beispiel. Denken wir an diese Situation: Ein Baby schreit. Während die eine Elterngrup­pe zum Kind geht und argumentie­rt, das schaffe Vertrauen, würde die anderen nicht reagieren und erklären, das Kind manipulier­e die Eltern nur. De facto ist der Wunsch der Kinder nach Nähe aber einfach nur ein uraltes Programm der Kinder.

Uraltes Programm? Renz Polster: Den Hang zum Fremdeln. Das Bedürfnis nach Nähe. Sogar das Problem beim Gemüseesse­n – all das sind die uralten Programme, mit denen sich Kinder selbst schützen.

Dass Fremdeln und das Bedürfnis nach Nähe Schutzmech­anismen sind, leuchtet ein. Doch wie funktionie­rt die These beim Gemüseesse­n?

Renz Polster: Zum einen ist es die Angst vor Neuem. Und zum anderen ist es der bittere Geschmack, den sie empfinden und bei dem der Körper signalisie­rt: Bitter könnte auch giftig sein. Entscheide­nd ist dann, wie die Umwelt reagiert. Wenn die Oma beim Brokkoli-Essen das Gereits sicht verzieht, wird’s schwierig für das Gemüse.

Was wünschen Sie den Eltern, die Ihren Vortrag besuchen?

Renz Polster: Ich möchte, dass sie staunen, wenn sie nach Hause gehen. Und, dass sie verstehen, dass es enorm schwierig für Kinder ist, die Gegensatzp­aare Freiheit und Bindung zu vereinbare­n. Das Wichtigste sollte immer sein: Kinder sollen das, was sie tun, mit leuchtende­n Augen tun.

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Info Der Kinderarzt, Wissenscha­ftler und Buchautor Herbert Renz Polster spricht am Donnerstag, 1. Februar, um 19 Uhr im Bürgersaal Meitingen.

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Foto: Oksana Kuzmina, Fotolia Nein, mein Gemüse ess’ ich nicht! Für Herbert Renz Polster ein bekanntes Muster.
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H. Renz Polster

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