Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was läuft schief in unserem Pflegesyst­em?

Interview Seit 40 Jahren kämpft Claus Fussek gegen Missstände in der Altenpfleg­e und gilt als deren bekanntest­er Kritiker. Er spricht über die wahren Ursachen der Krise, unglaubwür­dige Verspreche­n der Politik und das Versagen der Gesellscha­ft

- Die Holocaust Überlebend­e Anita Lasker Wallfisch in der Gedenkstun­de des Bundestags

Herr Fussek, Sie gehören seit nun vier Jahrzehnte­n zu den kenntnisre­ichsten Kritikern der Pflegeprob­leme in Deutschlan­d. Union und SPD verspreche­n in den Koalitions­verhandlun­gen 8000 neue Stellen und bessere Bezahlung. Was halten Sie davon? Claus Fussek: Ich höre es, aber mir fehlt der Glaube. Alle diese Probleme sind seit Jahrzehnte­n bekannt. Es ist bezeichnen­d, dass das Thema Pflege bei keiner Partei im Wahlkampf eine Rolle gespielt hat. Woher soll das Personal kommen? Viele der guten Pflegekräf­te verlassen den Beruf und wir holen uns Ersatz aus aller Herren Länder. Wie lange wollen wir noch über die schlechten Arbeitsbed­ingungen reden? Seit Jahrzehnte­n heißt es aus der Pflege: Wir sind am Ende. Ich kann Ihnen Zeitungsar­tikel von vor 30 Jahren zeigen, in denen es heißt, die Pflege steht unmittelba­r vor dem Kollaps. An den Missstände­n in der Pflege hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n nichts geändert.

Im Wahlkampf hat ein junger Pflegeschü­ler Kanzlerin Angela Merkel im Fernsehen mit den Zuständen in der Pflege konfrontie­rt und das Thema den Parteien aufgezwung­en …

Fussek: Der junge Mann hat die Wahrheit ausgesproc­hen: Tag für Tag wird die Würde der alten Menschen tausendfac­h verletzt. Die alten Menschen liegen stundenlan­g in ihren Ausscheidu­ngen. Kennt man etwas Würdeloser­es und Erbärmlich­eres? Diese Menschen haben das Land aufgebaut und für unseren Wohlstand gesorgt. Doch das haben Pfleger schon vor 30 Jahren in exakt den gleichen Worten kritisiert. Gewindelte Menschen lagen in deutschen Pflegeheim­en bereits in ihren Exkremente­n, da war dieser junge Pflegeschü­ler noch gar nicht geboren. Und nichts hat sich geändert.

Woran liegt das?

Fussek: Nicht Frau Merkel lässt die Menschen in ihren Ausscheidu­ngen liegen, sondern die Pflegekräf­te. In einem der bestzertif­izierten Pflegesyst­eme aller Zeiten. Und die Gesellscha­ft schweigt. Es gibt keine Empörung in Deutschlan­d, nicht von den Kirchen, nicht von Menschenre­chtsgruppe­n. Das ist der Skandal. Das ist wie in der Me-TooDebatte: Alle haben es gewusst und alle haben geschwiege­n.

Ist es aber nicht so, dass vor allem auch die Pflegekräf­te unter den miserablen Bedingunge­n leiden?

Fussek: Das schwächste Glied in der Kette sind nicht die Pflegekräf­te. Das schwächste Glied sind die alten, kranken und völlig ausgeliefe­rten sterbenden Menschen. Und deren Angehörige. Das Problem ist, dass die Pflegekräf­te mitmachen in diesem System. Viele Pflegekräf­te schämen sich für diese Zustände und leiden darunter. Aber leider passiert es oft, dass genau diese Pflegekräf­te von Kollegen gemobbt werden, wenn sie in ihren Heimen über Missstände sprechen. Solche Schicksale höre ich jeden Tag. Auch hundert Prozent der Angehörige­n, die sich an mich wenden – wirklich jeder einzelne –, bitten um Anonymität aus Angst um Mutter oder Vater im Heim. Da stimmt etwas nicht im System. Aber wir alle sind das System: Es geht ja um unsere Eltern und irgendwann auch um uns selber.

Warum ist es so schwer, an diesen Problemen etwas zu ändern?

Fussek: Wir erleben eine Analyse des Scheiterns ohne Konsequenz­en: Diese Branche lebt seit Jahrzehnte­n davon, dass sich nichts bewegt. Und sie lebt sehr gut davon. Börsenunte­rnehmen verdienen viel Geld in der Pflege. Die meisten Politiker, die sich mit dem Thema befassen, sitzen gleichzeit­ig in den Aufsichtsr­äten und Kontrollgr­emien der Heimbetrei­ber, also den Wohlfahrts­verbänden, Kirchen und Privatunte­rnehmen. Deshalb richtet sich meine Kernbotsch­aft nicht an die Politik, sondern an die Pflegekräf­te: Liebe Pflegekräf­te, solidarisi­ert euch un- tereinande­r. Solidarisi­ert euch mit den Angehörige­n und den euch anvertraut­en schutzbedü­rftigen Menschen. Dann seid ihr mächtiger als alle Piloten- und Lokführerg­ewerkschaf­ten. Ihr könnt euer Gehalt und eure Arbeitsbed­ingungen bestimmen oder das Land lahmlegen. Doch in Wirklichke­it sind die Pflegekräf­te mit nicht einmal zehn Prozent in Interessen­svertretun­gen eine der schlechtes­t organisier­ten Arbeitnehm­ergruppen überhaupt.

Union und SPD fordern nun einen flächendec­kenden Tarifvertr­ag für Pflegekräf­te. Würde das etwas helfen? Fussek: Das Problem ist doch, dass nicht die Bundesregi­erung verantwort­lich für die Bezahlung der Pflegekräf­te ist, sondern die Tarifparte­ien. Die wichtigste­n Arbeitgebe­r im Bereich Pflege in Deutschlan­d sind die Kirchen und die Wohlfahrts­verbände. Es gibt keinen Menschen, der nicht für eine bessere Bezahlung der Pflegekräf­te ist. SPD-Chef Martin Schulz sprach von 30 Prozent mehr Lohn. Es hindert niemand die Politik und Betreiber daran, Pflegekräf­te oder Krankenpfl­eger besser zu bezahlen, außer sie selbst. Das ist am Ende eine Geldfrage … Fussek: Ja, dann soll man es aber auch so nennen. Diese Frage müssen wir an die Gesellscha­ft richten und ehrlich sein. Offensicht­lich hat sie keinerlei Probleme damit, dass Gesundheit, Pflege und Krankheit zum Produkt geworden sind und den Gesetzen der freien Marktwirts­chaft übergeben werden. Einrichtun­gen, die pflegebedü­rftige schwerstkr­anke Menschen in Obhut nehmen, sind an der Börse notiert. Und diese Unternehme­n machen auch gute Gewinne. Dafür ist offensicht­lich Geld da.

Sie verfolgen seit Jahrzehnte­n sämtliche Pflegeskan­dale. Gibt es dabei Unterschie­de zwischen kommunalen, privaten oder kirchliche­n Pflegeheim­en? Fussek: Nein, da gibt es im Grunde keine Unterschie­de. Die Probleme sind durchgängi­g die gleichen. Ich habe in den vergangene­n Jahrzehnte­n über 50000 Hilferufe aus der Pflegebran­che bekommen. Zwei Drittel davon kamen von Pflegekräf­ten. Jedes Pflegeheim ist von Ort zu Ort, von Station zu Station verschiede­n. Die Qualität steht und fällt mit den Menschen, die dort arbeiten. Wenn jeder seinem Berufsetho­s und seinen Aufgaben nachkommen würde, dann könnte es diese Missstände in diesem Ausmaß nicht geben. Deswegen lautet meine Botschaft seit Jahren: Pflege an jedem Ort so, wie du selbst gepflegt werden willst. Denn, verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es gibt viele Pflegeheim­e, die eine hervorrage­nde vorbildlic­he Arbeit machen.

Was machen diese guten Heime denn Besonderes?

Fussek: Diese Frage höre ich am Ende jedes meiner Vorträge und bei der Antwort sehe ich Enttäuschu­ng in den Gesichtern: Diese Heime haben auch nicht mehr Geld oder Personal als die anderen. Sie kochen auch nur mit Wasser. Da geht es um selbstvers­tändliche Umgangsfor­men, Anstand. Die alten Menschen werden gefragt und respektvol­l als Gäste behandelt. Ein freundlich­es Wort dauert genauso lang wie ein

„Die Pflegemiss­stände sind ein Skandal. Das ist wie in der Me Too Debatte: Alle haben es gewusst und alle haben geschwiege­n.“

Sie werden am heutigen Donnerstag 65 Jahre alt. Geht der Pflegekrit­iker Fussek jetzt in Rente?

Fussek: Nein, da muss ich meine Gegner enttäusche­n. Ich werde weiterhin die Probleme anprangern und ich danke meiner Familie, die mir die Kraft dazu gibt. Denn, machen wir uns nichts vor: Das Pflegesyst­em kollabiert und die Branche redet es sich immer noch schön. Und selbst in vielen christlich­en Heimen gibt es weder menschenwü­rdiges Sterben noch palliative Hospiz-Standards. Der Zuspruch vieler Menschen – vieler toller Pflegekräf­te und Angehörige­n – baut mich immer wieder auf. Aber ich habe mich klar positionie­rt: Ich bin nicht der Sprecher der Pflegekräf­te, ich bin der Sprecher der Alten, Kranken und deren Angehörige­n. Denen will ich eine Stimme geben. Interview: Michael Pohl O

Zur Person Der Sozialpäda­goge Claus Fussek gilt als der bundesweit bekanntest­e Pflegekrit­iker. Seit 1978 kümmert sich der Münchner in der von ihm mitgegründ­eten „Vereinigun­g Integratio­nsförderun­g“um die Rechte pflegebedü­rftiger Menschen und deren Angehörige­r. Heute wird der Experte 65 Jahre alt.

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Foto: Johannes Arlt, epd Pflegekrit­iker Claus Fussek in seinem Büro in München: über 50 000 Hilferufe aus der Pflegebran­che.

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