Augsburger Allgemeine (Land Nord)
So selbstständig können Behinderte heute leben
Schule Der Arzt Fritz Felsenstein kümmerte sich schon vor über 50 Jahren um Kinder mit Handicap in ganz Schwaben. Die medizinische Versorgung und die Förderung haben sich seitdem stark verbessert. Was jetzt noch nötig ist
Augsburg Die Arme und Beine von Matthias Foryschowski sind gelähmt. Von Geburt an. Er kam zehn Wochen zu früh auf die Welt und erlitt einen Sauerstoffmangel. Die Folge: Tetraparese. Er sitzt im Rollstuhl. Dennoch lebt der 30-Jährige selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung in Augsburg und arbeitet im Büro der Ulrichswerkstätten. Die Technik, aber auch Menschen, die als persönliche Assistenten dem jungen Mann zur Seite stehen, machen dies möglich. Genau das ist seit 50 Jahren das Ziel des Fritz-Felsenstein-Hauses in Königsbrunn bei Augsburg: die Förderung körperlich behinderter Menschen mit dem Ziel, ihnen dabei zu helfen, sich ein selbstständiges Leben aufzubauen.
Am Ziel ist Gregor Beck damit noch lange nicht. Der Leiter des Fritz-Felsenstein-Hauses sieht viel Nachholbedarf, damit Menschen mit und ohne Handicap gleichberechtigt zusammenleben. Seine größte Sorge ist der Ausbildungsund Arbeitsmarkt. Trotz anhaltend starker Konjunktur tun sich behinderte Menschen dort sehr schwer. „Die meisten sind in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt.“Zwar tritt nun das Bundesteilhabegesetz in Kraft. Damit können zum Beispiel Bayerns Unternehmen künftig mehr Geld vom Freistaat bekommen, wenn sie Arbeitnehmer mit Handicap einstellen. Doch Beck fürchtet, dass die Zuschüsse nicht reichen. „Für die Beschäftigung eines behinderten Menschen müssen Unternehmen so gefördert werden, dass ihnen überhaupt keine Zusatzkosten entstehen. Auch nicht für die Einrichtung eines Arbeitsplatzes.“
Beck hat aber noch ein anderes großes Anliegen. Um sein Ziel zu erreichen, das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, wünscht er sich, die
Fritz-Felsenstein-Schule für nicht behinderte Kinder öffnen zu können. Ihm reicht es nicht, dass Menschen „trotz Behinderung“oder „obwohl behindert“an vielen Stellen nun mitmachen dürfen. „Wir brauchen kein ,obwohl‘ oder ,trotz‘ mehr, sondern ein Miteinander ohne Betonung von Unterschieden – auch im Fritz-Felsenstein-Haus.“
Dennoch betont Beck, dass für die Gleichstellung viel erreicht wurde. Gerade in den vergangenen 50 Jahren. Seit der Gründung des FritzFelsenstein-Hauses. Gunhild Baur kann das nur bestätigen. Bereits 1970 begann die gelernte Kinderkrankenschwester und Heilpädagogin als Internatsleiterin in der Fritz-Felsenstein-Schule. Damals noch nicht in Fritz Felsenstein Haus in Königsbrunn bei Augsburg mit seinen rund 440 Mitarbeitern ein Kompetenzzentrum für Menschen mit Körper und Mehr fachbehinderung. Das Einzugsgebiet reicht südlich bis zum Ost /Unterall gäu, nördlich bis in den Donau Ries Kreis. Informationen im Internet un ter www.felsenstein.org. (huda)
Königsbrunn, sondern in einem Haus in Augsburg. Sehr beengt sei alles gewesen. Ohne Aufzug galt es, viele der Kinder über die Treppen zu tragen. Oft hatten sie nicht einmal genügend Rollstühle. Nicht vergessen darf man ihrer Ansicht nach, wie viele behinderte Kinder damals früh gestorben sind. Daher hebt die 76-Jährige die medizinischen Fortschritte hervor, wenn man sie nach den großen Veränderungen fragt. Auch gab es damals noch viele junge Patienten mit Kinderlähmung. Mitentscheidend für die Gründung des Fritz-Felsenstein-Hauses sei der ConterganSkandal gewesen, in dessen Folge auch in der Region viele behinderte Kinder zur Welt kamen. Skeptisch ist Gunhild Baur, wenn es um die gesellschaftliche Anerkennung von behinderten Menschen geht. Sie kann sich gut an Situationen erinnern, als sie mit ihren Kindern unterwegs war und Passanten laut sagten: „Unter Hitler hätte es das nicht gegeben.“Heute würde keiner mehr wagen, das zu sagen, „aber ob es nicht noch viele denken“?
Heute können viele behinderte Menschen selbstbestimmt leben. Sie sind dank der technischen Entwicklung mobiler. Und kommunikativer. So ermöglichen etwa Sprachcomputer, die mittels Augenkontakt gesteuert werden, längst einen Austausch mit Menschen, die mehrfach schwerstbehindert sind und nur noch die Augen bewegen können. Mit der Technik wachsen die Möglichkeiten, selbstständig zu wohnen. Zu viele
Was fehlt, sind Arbeitsstellen und Ausbildungsplätze
behinderte Menschen leben nach Ansicht des Leiters des Fritz-Felsenstein-Hauses noch in ihren Familien. Für Beck sind kleine Wohngruppen und zunehmend das Wohnen mit Assistenten in der eigenen Wohnung die Zukunft. „Hier ist der Bedarf ungeheuer groß.“
Matthias Foryschowski hat dies geschafft. Für ihn ist das Leben mit persönlichen Assistenten „das Beste, was mir in meiner Situation passieren kann“. Doch so gut es ihm in seinen vier Wänden geht, so mühsam sei es oft außerhalb. So sieht der 30-Jährige nicht nur beim öffentlichen Nahverkehr in Augsburg Nachholbedarf, schließlich lassen ihn, wie er erzählt, Bus- und Straßenbahnfahrer immer wieder einfach stehen. Auch so manche Bar ist mit Rollstuhl leider nicht zugänglich.