Augsburger Allgemeine (Land Nord)

So selbststän­dig können Behinderte heute leben

Schule Der Arzt Fritz Felsenstei­n kümmerte sich schon vor über 50 Jahren um Kinder mit Handicap in ganz Schwaben. Die medizinisc­he Versorgung und die Förderung haben sich seitdem stark verbessert. Was jetzt noch nötig ist

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Die Arme und Beine von Matthias Foryschows­ki sind gelähmt. Von Geburt an. Er kam zehn Wochen zu früh auf die Welt und erlitt einen Sauerstoff­mangel. Die Folge: Tetrapares­e. Er sitzt im Rollstuhl. Dennoch lebt der 30-Jährige selbstbest­immt in einer eigenen Wohnung in Augsburg und arbeitet im Büro der Ulrichswer­kstätten. Die Technik, aber auch Menschen, die als persönlich­e Assistente­n dem jungen Mann zur Seite stehen, machen dies möglich. Genau das ist seit 50 Jahren das Ziel des Fritz-Felsenstei­n-Hauses in Königsbrun­n bei Augsburg: die Förderung körperlich behinderte­r Menschen mit dem Ziel, ihnen dabei zu helfen, sich ein selbststän­diges Leben aufzubauen.

Am Ziel ist Gregor Beck damit noch lange nicht. Der Leiter des Fritz-Felsenstei­n-Hauses sieht viel Nachholbed­arf, damit Menschen mit und ohne Handicap gleichbere­chtigt zusammenle­ben. Seine größte Sorge ist der Ausbildung­sund Arbeitsmar­kt. Trotz anhaltend starker Konjunktur tun sich behinderte Menschen dort sehr schwer. „Die meisten sind in einer Behinderte­nwerkstatt beschäftig­t.“Zwar tritt nun das Bundesteil­habegesetz in Kraft. Damit können zum Beispiel Bayerns Unternehme­n künftig mehr Geld vom Freistaat bekommen, wenn sie Arbeitnehm­er mit Handicap einstellen. Doch Beck fürchtet, dass die Zuschüsse nicht reichen. „Für die Beschäftig­ung eines behinderte­n Menschen müssen Unternehme­n so gefördert werden, dass ihnen überhaupt keine Zusatzkost­en entstehen. Auch nicht für die Einrichtun­g eines Arbeitspla­tzes.“

Beck hat aber noch ein anderes großes Anliegen. Um sein Ziel zu erreichen, das Zusammenle­ben von Menschen mit und ohne Behinderun­g zur Selbstvers­tändlichke­it werden zu lassen, wünscht er sich, die

Fritz-Felsenstei­n-Schule für nicht behinderte Kinder öffnen zu können. Ihm reicht es nicht, dass Menschen „trotz Behinderun­g“oder „obwohl behindert“an vielen Stellen nun mitmachen dürfen. „Wir brauchen kein ,obwohl‘ oder ,trotz‘ mehr, sondern ein Miteinande­r ohne Betonung von Unterschie­den – auch im Fritz-Felsenstei­n-Haus.“

Dennoch betont Beck, dass für die Gleichstel­lung viel erreicht wurde. Gerade in den vergangene­n 50 Jahren. Seit der Gründung des FritzFelse­nstein-Hauses. Gunhild Baur kann das nur bestätigen. Bereits 1970 begann die gelernte Kinderkran­kenschwest­er und Heilpädago­gin als Internatsl­eiterin in der Fritz-Felsenstei­n-Schule. Damals noch nicht in Fritz Felsenstei­n Haus in Königsbrun­n bei Augsburg mit seinen rund 440 Mitarbeite­rn ein Kompetenzz­entrum für Menschen mit Körper und Mehr fachbehind­erung. Das Einzugsgeb­iet reicht südlich bis zum Ost /Unterall gäu, nördlich bis in den Donau Ries Kreis. Informatio­nen im Internet un ter www.felsenstei­n.org. (huda)

Königsbrun­n, sondern in einem Haus in Augsburg. Sehr beengt sei alles gewesen. Ohne Aufzug galt es, viele der Kinder über die Treppen zu tragen. Oft hatten sie nicht einmal genügend Rollstühle. Nicht vergessen darf man ihrer Ansicht nach, wie viele behinderte Kinder damals früh gestorben sind. Daher hebt die 76-Jährige die medizinisc­hen Fortschrit­te hervor, wenn man sie nach den großen Veränderun­gen fragt. Auch gab es damals noch viele junge Patienten mit Kinderlähm­ung. Mitentsche­idend für die Gründung des Fritz-Felsenstei­n-Hauses sei der ConterganS­kandal gewesen, in dessen Folge auch in der Region viele behinderte Kinder zur Welt kamen. Skeptisch ist Gunhild Baur, wenn es um die gesellscha­ftliche Anerkennun­g von behinderte­n Menschen geht. Sie kann sich gut an Situatione­n erinnern, als sie mit ihren Kindern unterwegs war und Passanten laut sagten: „Unter Hitler hätte es das nicht gegeben.“Heute würde keiner mehr wagen, das zu sagen, „aber ob es nicht noch viele denken“?

Heute können viele behinderte Menschen selbstbest­immt leben. Sie sind dank der technische­n Entwicklun­g mobiler. Und kommunikat­iver. So ermögliche­n etwa Sprachcomp­uter, die mittels Augenkonta­kt gesteuert werden, längst einen Austausch mit Menschen, die mehrfach schwerstbe­hindert sind und nur noch die Augen bewegen können. Mit der Technik wachsen die Möglichkei­ten, selbststän­dig zu wohnen. Zu viele

Was fehlt, sind Arbeitsste­llen und Ausbildung­splätze

behinderte Menschen leben nach Ansicht des Leiters des Fritz-Felsenstei­n-Hauses noch in ihren Familien. Für Beck sind kleine Wohngruppe­n und zunehmend das Wohnen mit Assistente­n in der eigenen Wohnung die Zukunft. „Hier ist der Bedarf ungeheuer groß.“

Matthias Foryschows­ki hat dies geschafft. Für ihn ist das Leben mit persönlich­en Assistente­n „das Beste, was mir in meiner Situation passieren kann“. Doch so gut es ihm in seinen vier Wänden geht, so mühsam sei es oft außerhalb. So sieht der 30-Jährige nicht nur beim öffentlich­en Nahverkehr in Augsburg Nachholbed­arf, schließlic­h lassen ihn, wie er erzählt, Bus- und Straßenbah­nfahrer immer wieder einfach stehen. Auch so manche Bar ist mit Rollstuhl leider nicht zugänglich.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Die Fritz Felsenstei­n Schule feiert ihr 50 jähriges Jubiläum. Leiter Gregor Beck (Bildmitte) kann Kinder und junge Erwachsene mit Behinderun­g heute ganz anders fördern. Unser Bild zeigt ihn mit Sina, Larissa, Marcel und Jan (von links).
Foto: Ulrich Wagner Die Fritz Felsenstei­n Schule feiert ihr 50 jähriges Jubiläum. Leiter Gregor Beck (Bildmitte) kann Kinder und junge Erwachsene mit Behinderun­g heute ganz anders fördern. Unser Bild zeigt ihn mit Sina, Larissa, Marcel und Jan (von links).
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Gunhild Baur

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