Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das erste bisschen Freiheit

Wenn ein Kind zum ersten Mal alleine Fahrrad fährt, ist das ein großer Moment – auch für den Papa

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Wittelsbac­her Park und fühle Freudenträ­nen in meinen Augen, als ich in das glückliche Gesicht meiner kleinen Tochter blicke.

Voller Aufregung fasst sie die Ereignisse der letzten halben Stunde zusammen: „Ich bin ganz allein gefahren! – Papa hatte keine Hände am Sattel! – Ich war wackelig! – Ich bin ganz allein gefahren! – ... “Kein Wort von dem ersten Sturz, der sich exakt so auch damals bei mir zugetragen hatte, stattdesse­n eine Endlosschl­eife der Glückselig­keit. Besser, wir trinken erstmal Tee. Kaum ist ihre Tasse leer, will mein StehaufMäd­chen weiterfahr­en!

Nachvollzi­ehbar, schließlic­h hat sie nun ein Sechstel ihres dreijährig­en Lebens auf diesen Moment gewartet. Seit einem halben Jahr ist kein Kinderrad am Spielplatz vor ihr sicher gewesen, jedes Rad – besonne ders, wenn es blau war – ist ausgiebig begutachte­t worden. Meine Leidenscha­ft muss wohl auf sie übergespru­ngen sein. „Blaues Fahrrad kaufen?!“wurde ich beinahe jede Woche gefragt. Bis ich ihr sagte, dass wir erst ihre Beinlänge messen mussten: Da noch 1,5 cm fehlten, sagte ich ihr, sie müsse noch warten. Doch sie ließ nicht locker – von da an lautete ihre Aufforderu­ng in

unregelmäß­igen Abständen: „Bei- messen!“An ihrem Geburtstag war es endlich so weit: Eine Woche vorher waren ihre Beine bei der Mindestlän­ge für das auserwählt­e Rad angekommen. Die Überraschu­ng konnte ich für den kleinen scharfsinn­igen Geist nicht mehr geheimhalt­en. Doch am großen Tag blieb ihr nichts anderes übrig, als das Rad stolz durch die Wohnung zu schieben, leider war sie krank. Der Freude tat das keinen Abbruch und wir zählten die Tage bis zum Umstieg vom Lauflernra­d auf das erste echte Fahrrädche­n. Nun ist sie offenkundi­g enttäuscht, dass es noch nicht ganz ohne Papa klappt, aber jeden kleinen Erfolg feiert sie. „Papa hatte keine Hände am Sattel“wird irgendwann zu „Ich fahre zum Spielplatz“werden, später zu „Ich fahre meine Freundin besuchen“. Ich werde jeden dieser Schritte hinein in die selbstbest­immte Mobilität feiern, denn jeder einzelne davon ist auch ein Schritt in die Unabhängig­keit. So wird das Radfahren einmal mehr zur Lebensmeta­pher: Wir Eltern wünschen, dass unsere Sprössling­e selbstbest­immt ihre Lebenswege bestreiten können? Dafür dürfen wir keine Bremsklötz­e sein, sondern sollten sicherstel­len, dass die Bremsen funktionie­ren und der kleine Mensch sie zu benutzen weiß.

Wir wollen, dass sie gradlinig voranschre­iten können? Dafür bringen wir ihnen bei, die Balance zu wahren und umsichtig zu sein. Radfahren kann vieles davon auf physische und mentale Weise lehren, weshalb wir unseren Kindern jede Chance dazu geben sollten, egal ob auf dem Weg zum Spielplatz oder zur Schule.

Sven Külpmann, 35, wuchs als Sohn eines Fahrlehrer­s auf und lebt seit 13 Jahren autofrei.

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Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle Ihres Lokalteils. Nächste Woche: „Mein Augsburg“mit typisch Augsburger­ischen Ansichten und Geschichte­n.

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