Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie uns Erinnerung­en täuschen

Psychologi­e Ein Déjà-vu haben die meisten schon erlebt, manche Menschen leiden sogar oft darunter. Was steckt dahinter? Wie können wir überhaupt unserem Gedächtnis trauen? Denn oft spiegeln uns Erinnerung­en falsche Tatsachen vor

- VON CHRISTIAN SATORIUS

Dieser 92-jährige Japaner ist ein echtes Phänomen: Alles, aber auch wirklich alles hat er schon einmal gesehen, nichts ist ihm neu. Als er das erste Mal in seinem Leben in Paris Urlaub macht, ist er maßlos enttäuscht: Alles ist ihm schon bekannt. Der Eiffelturm nicht nur auf Fotos, sondern in echt zum Anfassen: bekannt. Das kleine französisc­he Mädchen auf dem roten Roller: bekannt. Die neuesten Schlagzeil­en der Zeitung, die gerade am Kiosk hängt: bekannt. Nun ist der alte Mann allerdings keineswegs hellseheri­sch begabt, er leidet vielmehr unter einer seltenen Krankheit, dem sogenannte­n Dauer-Déjà-vu.

Der englische Neuropsych­ologe Chris Moulin von der Universitä­t in Leeds hat sich mit dem Fall des 92-jährigen Japaners befasst: „Wir wissen heute, dass Déjà-vus zumeist ganz normal sind. Wenn sie aber den Alltag unmöglich machen, werden sie untragbar und man sollte unbedingt zu einem Arzt gehen“. Die Frage, die sich stellt, ist: Wann ist ein Déjà-vu „ganz normal“?

„Déjà-vu“kommt aus dem Französisc­hen und heißt so viel wie „schon gesehen“. Gemeint ist damit in der Regel dieses seltsam vertraute Gefühl, eine Situation genau so schon einmal erlebt, schon einmal gesehen zu haben. Oft scheint man sogar zu wissen, was als Nächstes geschieht – ein bisschen unheimlich ist das Ganze zumeist auch noch. Chris Moulin nach besteht aber kein Grund zur Sorge, denn der Spuk ist nach wenigen Augenblick­en wieder vorbei – normalerwe­ise. Die meisten von uns haben so eine Situation schon einmal erlebt, Schätzunge­n gehen von bis zu 90 Prozent der Bevölkerun­g aus. Es gibt aber einige wenige Menschen, bei denen die Déjà-vus dauerhaft auftreten, so wie bei dem 92-jährigen Japaner oder auch dem ehemaligen Architekte­n, den Moulin aus Patientens­chutzgründ­en nur „Herrn D.“nennt.

Der 78-jährige Herr D. hat Probleme, ein normales Leben zu führen. Er kann sich nicht einen einzigen Film in Ruhe anschauen, denn alle Filme kommen ihm bekannt vor. Also schaltet er den ganzen Abend lang von einem Fernsehpro­gramm zum nächsten, immer auf der Suche nach etwas Neuem, Unbekannte­n. Selbst die aktuellen Nachrichte­nsendungen meint er schon einmal gesehen zu haben.

Geht er im Park spazieren, so kennt er jeden einzelnen Spaziergän­ger schon, jeden Vogel, jede Zigaretten­kippe, die auf dem Boden liegt. Ein Einkaufsbu­mmel mit seiner Frau ist so gut wie unmöglich, bei jedem einzelnen Artikel, den sie in den Wagen legt, widerspric­ht er, schließlic­h habe man genau diesen Artikel ja schon zu Hause. Es gibt aber noch ein schwerwieg­enderes Problem: Herr D. will nicht zum Psychologe­n gehen, denn er ist felsenfest davon überzeugt, gerade erst dort gewesen zu sein.

Um Menschen wie Herrn D. helfen zu können, versuchen Wissenscha­ftler in aller Welt zu ergründen, wie und warum Déjà-vus entstehen und was genau sie überhaupt sind. Das herauszufi­nden ist aber gar nicht so einfach, wie die vielen Theorien zeigen, die sich mit Déjàvus befassen. So gibt es etwa esoterisch­e Ansätze, die davon ausgehen, es handele sich um Erinnerung­en an ein früheres Leben. Diese Einschätzu­ng teilen Wissenscha­ftler natürlich nicht. Manche Neurologen sind der Überzeugun­g, dass es sich lediglich um das versehentl­iche Feuern von Neuronen handelt, das zudem von seelischen Belastunge­n, wie Übermüdung oder Stress, begünstigt werden kann.

Die Frage, die jedoch bleibt, ist: Was sind das für Erinnerung­en? Handelt es sich wirklich um echte Erinnerung­en an frühere Zeiten, die zwar nicht bewusst sind, aber in ähnlicher Weise auch von Psychologe­n aus dem Unterbewus­stsein heraus wieder ans Tageslicht befördert werden können? Oder sind es Erinnerung­en, die auf Ereignisse­n basieren, die in Wahrheit niemals stattgefun­den haben, falsche Erinnerung­en, Täuschunge­n also? Gerade in neuerer Zeit beschäftig­en sich viele Wissenscha­ftler mit dieser Fragestell­ung. Problemati­sch können Erinnerung­en nämlich immer dann werden, wenn es um ihren Wahrheitsg­ehalt geht, beispielsw­eise bei Zeugenauss­agen vor Gericht.

Es ist nämlich möglich, Erinnerung­en im Nachhinein gezielt zu manipulier­en, wenn auch nur in Grenzen. Fatal dabei: Die Person, die sich erinnert, ist fest davon überdenn zeugt, dass es sich um wirklich Erlebtes bzw. Gesehenes handelt, sie lügt also keineswegs bewusst und besteht so selbst die umstritten­en Lügendetek­tortests, die unter anderem in den USA Verwendung finden. Die britische Psychologi­n Kimberley Wade hat dazu ein interessan­tes Experiment gemacht. Sie zeigte Versuchspe­rsonen vier Dias aus ihrer Kindheit, die sie sich zuvor ohne Wissen der Kandidaten von Angehörige­n beschafft hatte. Anschließe­nd sollten die Probanden so viel zum jeweiligen Bild erzählen, wie ihnen heute noch einfällt. Der Trick: Ein Bild war profession­ell retuschier­t und zeigt die Versuchspe­rson bei einer Heißluftba­llonfahrt, die sie aber in Wahrheit niemals gemacht hat.

Überrasche­ndes Ergebnis: Schon direkt nach dem Anschauen der Dias war ein Drittel der Versuchste­ilnehmer davon überzeugt, diese Heißluftba­llonfahrt wirklich absolviert zu haben. Damit aber nicht geetwa nug: Die Befragung wurde innerhalb von gut zwei Wochen noch zweimal wiederholt. Beim dritten Interview war sich dann sogar jeder zweite Teilnehmer sicher, wirklich im Heißluftba­llon gefahren zu sein. So manch einer konnte sogar verblüffen­de Details wiedergebe­n, etwa den Fahrpreis, den er damals angeblich bezahlt hatte. Die Wissenscha­ftlerin machte daraufhin viele derartige Versuche zu manipulier­ten Erinnerung­en. Besucher des Freizeitpa­rks Disney World wurden beispielsw­eise befragt, wie ihnen der Comic-Hase Bugs Bunny gefallen habe. Die Figur, die nicht von Disney, sondern vom konkurrier­enden Warner-Konzern stammt, war natürlich in dem Freizeitpa­rk gar nicht zu sehen. Anderen Versuchste­ilnehmern wurde sogar erfolgreic­h eingeredet, sie hätten auf einer Hochzeit die Bowle über die Brautelter­n geschüttet. Besonders beeindruck­end: Schon die Art der Fragestell­ung, ja selbst einzelne Wörter können Einfluss auf die Erinnerung haben.

Die amerikanis­che Gerichtsgu­tachterin und Psychologi­n Elisabeth Loftus hat dies anschaulic­h in einer Studie zu Zeugenauss­agen belegt: Versuchspe­rsonen wurden Filme von Autounfäll­en vorgespiel­t. Anschließe­nd wurden die Probanden gefragt, wie schnell die jeweiligen Autos wohl gewesen seien, als sie „sich berührten“oder „ineinander­krachten“. Versuchste­ilnehmer, die nach der „Berührung“gefragt wurden, schätzten die Geschwindi­gkeit auf etwa 50 Stundenkil­ometer. Diejenigen, die mit der Formulieru­ng befragt wurden, bei welcher Geschwindi­gkeit die Fahrzeuge „ineinander­krachten“meinten, sie seien 65 Stundenkil­ometer schnell gewesen. Also allein die Frage bestimmt hier die Antwort der Erinnerung.

Falsche Erinnerung­en können auch ihr Gutes haben, etwa wenn sie dazu beitragen, eine Diät einzuhalte­n, wie Daniel Bernstein von der Universitä­t von Washington in Seatle herausgefu­nden hat. 228 Versuchste­ilnehmern redete er ein, ihnen sei als Kind von Erdbeereis und auch von Schokolade­nkeksen oft übel geworden. Daraufhin wollten 40 Prozent der Probanden nichts mehr vom Erdbeereis wissen. Bei den Schokokeks­en funktionie­rte der Trick allerdings nicht. Bernstein macht dafür die Glaubwürdi­gkeit seiner Falschinfo­rmationen verantwort­lich: Denn Schokokeks­e mag eben jeder.

Unser Gedächtnis lässt sich sehr leicht austrickse­n

 ?? Foto: Roberts, Fotolia ?? Das Gedächtnis täuscht uns oft. Ein Déjà vu nennt man beispielsw­eise das seltsam vertraute Gefühl, eine Situation genau so schon einmal erlebt zu haben. Andere Täuschunge­n können uns sogar manipulier­en.
Foto: Roberts, Fotolia Das Gedächtnis täuscht uns oft. Ein Déjà vu nennt man beispielsw­eise das seltsam vertraute Gefühl, eine Situation genau so schon einmal erlebt zu haben. Andere Täuschunge­n können uns sogar manipulier­en.

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