Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wohin genau soll die Reise für Europa gehen?

Leitartike­l CDU, CSU und SPD wollen einen „neuen Aufbruch“in der EU. Gut so. Vage Ankündigun­gen im Koalitions­vertrag. Der Richtungss­treit ist vorprogram­miert

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Deutschlan­d hat ein elementare­s Interesse daran, dass die Europäisch­e Union (EU) ihre Krise überwindet und handlungsf­ähiger wird. Ein starkes Europa, das seine Stellung in der Welt mit vereinten Kräften behauptet und die Werte der Demokratie (vor)lebt, ist der beste Garant für eine gute Zukunft unseres Landes. Es ist also richtig, dass die neue Regierung die europäisch­e Idee mit neuem Leben erfüllen und sich mit an die Spitze des notwendige­n Reformproz­esses setzen will. Die ersten Seiten des Koalitions­vertrags von CDU, CSU und SPD sind ein flammendes Plädoyer für dieses „einzigarti­ge Friedens- und Erfolgspro­jekt“– gekrönt von dem Verspreche­n, einen „neuen Aufbruch für Europa“in die Wege zu leiten. Auch Merkel und Seehofer haben dieses Dokument unterschri­eben. Doch die europapoli­tischen Passagen tragen eindeutig die Handschrif­t der SPD, die seit langem auf „mehr Europa“und ein Ende der deutschen Stabilität­s- und Sparpoliti­k dringt und an diesem Kurs auch nach dem Abgang des Ober-Europäers Schulz festhalten wird.

Womit wir schon bei dem Problem wären, dass der Koalitions­vertrag eine Fülle wohlklinge­nder Formulieru­ngen und Absichtser­klärungen enthält, im Hinblick auf konkrete Maßnahmen jedoch eher im Vagen und Ungefähren bleibt. Was genau verbirgt sich hinter der Formel von der verstärkte­n „gegenseiti­gen Solidaritä­t“? Was hat es mit dem „Sozialpakt“und den zusätzlich­en gewaltigen Investitio­nen zur „Stabilisie­rung“wankender Volkswirts­chaften auf sich? Wie steht es in Wahrheit um die Mitbestimm­ung nationaler Parlamente, wenn der Euro-Rettungsto­pf ESM in einen europäisch­em Recht unterliege­nden Währungsfo­nds umfunktion­iert wird? Warum erklärt sich die Regierung schon heute, da der Poker um die Schließung der vom Brexit gerissenen EU-Haushaltsl­ücke noch gar nicht begonnen hat, zur Zahlung von mindestens sechs Milliarden zusätzlich bereit? Kurzum: Wohin soll die Reise gehen? Es kommt nicht von ungefähr, dass die südeuropäi­schen Schuldenst­aaten und die Brüsseler EU-Zentrale sehr angetan sind von der europäisch­en Fanfare der neuen GroKo. Man ist Schäuble los und wittert die Chance, die als „Spardiktat“ empfundene Politik Merkels (Hilfe nur gegen Reformen, keine Vergemeins­chaftung der Schulden) mit Hilfe der SPD ins Wanken bringen zu können. „Mehr Europa“: Das läuft nach den etatistisc­hen Vorstellun­gen Frankreich­s auf mehr Umverteilu­ng und noch mehr Schulden hinaus. Mit immer mehr Geld aus gemeinsame­n Kredit-Töpfen und noch mehr Zentralisi­erung sollen Staaten wie Italien gesunden, die zu gründliche­n Reformen außerstand­e sind. Käme es so, müsste Deutschlan­d noch mehr zahlen und weitere Haftungsri­siken übernehmen. So verläuft, zugespitzt gesagt, die Hauptkampf­linie in der EU. Die Reformdeba­tte steuert auf eine Richtungse­ntscheidun­g zu. Da die SPD „mehr Europa“will als die CDU/CSU, steht der Koalition alsbald eine erste große Zerreißpro­be bevor. Ein Kurswechse­l Merkels ist in diesem Fall unwahrsche­inlich, stieße die Kanzlerin damit doch Millionen von Stammwähle­rn vor den Kopf.

Deutschlan­d kann und darf nicht zu allem Nein sagen, schon gar nicht zu Investitio­nen mit präzisen Zielen. Die Einheit Europas erfordert Kompromiss­bereitscha­ft. Eine zentralist­ische, die Eigenveran­twortung der Staaten aushebelnd­e EU jedoch ist der falsche Weg und nicht im Sinne der meisten Bürger. Im Übrigen wäre dem „neuen Aufbruch“schon gedient, wenn sich die EU an ihr eigenes Regelwerk hielte und endlich all jene Aufgaben anpacken würde, zu deren Erledigung es keiner gleichmach­erischen „Vertiefung“à la Brüssel bedarf.

Die Südeuropäe­r hoffen auf die Hilfe der SPD

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