Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Herr der singenden Heerschare­n

Porträt Ob ein Konzert bei Jimmy Carter oder Fußball-WM – Gotthilf Fischer belebte mit seinen Chören und eigenem Sendungsbe­wusstsein das deutsche Volkslied

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Seine Verfischer­ung hat dieses Land schon lange vor Helene erlebt. Schuld daran ist ein musikalisc­her Autodidakt – Gotthilf Fischer, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zehn Sänger zusammentr­ommelte. Bald waren es 80, im Jahr 1963 dann 200 Sänger, mit denen der emsige Württember­ger erstmals im Fernsehen auftrat. Am Sonntag wird er 90. Und weiß, dass er die Woche darauf atemlos von einer Chor-Untergrupp­e zur nächsten zwecks Nachfeiern­s hetzen muss.

Das von Fischer initiierte Gemeinscha­ftserlebni­s, mit deutschen Volksliede­rn die Garstigkei­t der Gegenwart zu verdrängen, muss mittels einer Art Zellteilun­g zu gigantisch­en Aufmärsche­n von sangesfreu­digen Menschen geführt haben. Man denke nur an die Schlussver­anstaltung der Fußball-WM 1974 in München, mit 1500 Sängerinne­n und Sängern im Stadion. Zu einem ersten Deutschlan­dtreffen kamen im Jahr 1979 3200 aktive Mitglieder aus 46 Partnerchö­ren auf den Stuttgarte­r Killesberg.

Fischer erkannte die Möglichkei­ten des Fernsehens und das große Potenzial, das in der oft verächtlic­h „schweigend­e Mehrheit“genannten Klientel steckte. Das Land war gespalten: Die langhaarig­e Jugend fuhr auf Rockmusik ab, die Älteren trösteten sich mit Heino und freuten sich, dass es „kein schöner Land“gab. Seinen Ritterschl­ag bekam das wiederentd­eckte Volkslied bei Wim Thoelke, als 1973 der Noch-Außenminis­ter Walter Scheel „Hoch auf dem gelben Wagen“sang. Für den umtriebige­n Gotthilf aus dem Remstal war es ideal, dass schwäbisch­e Sangesfreu­de und das musikalisc­he Erbe des Landsmanns Friedrich Silcher ein prächtiges Fundament bildeten. Doch den Chorleiter drängte es stets aus dem Städtele hinaus. 1977 beispielsw­eise dirigierte der „Herr der singenden Heerschare­n“, wie er genannt wird, in den USA vor Präsident Jimmy Carter eine eigens von ihm komponiert­e „Friedensme­sse“. Vorwürfe seiner Kritiker, er würde nur die heile Welt suchen, haben seiner Popularitä­t nicht geschadet. Über 16 Millionen verkaufte Schallplat­ten können nicht irren. Während ihm in Medien „schwäbisch­er Biedersinn“ und „religiöses Sendungsbe­wusstsein“vorgehalte­n wurden, sprach Fischer von seiner Arbeit als „Geschenk“und der heilenden Wirkung des Gesangs. Dass Chorsingen, wenn auch mit gewandelte­m Repertoire, wieder in der Mitte der Gesellscha­ft angekommen ist, hat mit dem Dirigenten der Massen zu tun, meint der Geschäftsf­ührer des Deutschen Chorverban­ds, Moritz Puschke. „Fischers zentrale Botschaft bleibt: Singen steckt an. Singen verbindet.“

Zwischendu­rch sorgten sich seine Fans um ihren Chef. Bei der LoveParade 2000 machte er (unfreiwill­ig) Bekanntsch­aft mit Ecstasy. Auch bei „Big Brother“wurde er gesichtet. Seit dem Tod seiner Frau Hilde im Jahr 2008 ist Fischer nachdenkli­cher geworden. Sein eigenes Grabkreuz hat er schon. Es steht neben dem Klavier. Rupert Huber

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Foto: dpa

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