Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (75)

-

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Vielleicht auch daran, dass Tommy manchmal, auch wenn es wirklich schön gewesen war und wir eng umschlunge­n beieinande­r lagen und in Gedanken noch dem Erlebten nachhingen, eine Bemerkung machte wie:

„Früher konnte ich es ohne weiteres zweimal hintereina­nder tun. Jetzt geht das nicht mehr.“

Dann schob sich dieses Gefühl mächtig in den Vordergrun­d, und ich musste ihm, wenn er solche Sachen sagte, die Hand auf den Mund legen, damit wir weiter friedlich nebeneinan­der liegen konnten. Ich bin sicher, dass Tommy genauso empfand, denn danach hielten wir einander immer besonders fest, als könnte es uns auf diese Weise gelingen, das Gefühl zu bannen.

Während unserer ersten gemeinsame­n Wochen erwähnten wir Madame oder das Gespräch mit Ruth im Auto so gut wie nie. Doch schon der Umstand, dass ich jetzt seine Betreuerin war, erinnerte uns ständig daran, dass wir keine Zeit zu vergeuden

hatten. Und eine weitere Erinnerung waren natürlich Tommys Tierzeichn­ungen.

Ich hatte im Lauf der Jahre oft an Tommys Tiere gedacht, und auch während unseres Ausflugs zum Boot war ich versucht gewesen, ihn danach zu fragen. Hatte er weitergeze­ichnet? Hatte er die Tiere aus den Cottages aufbewahrt? Aber wegen der ganzen Geschichte, die damit verbunden war, brachte ich es nie über mich.

Eines Nachmittag­s jedoch, vielleicht einen Monat nachdem ich sein Betreuer geworden war, trat ich zu ihm ins Zimmer und fand ihn an seinem Schülerpul­t sitzen, so intensiv mit einer Zeichnung beschäftig­t, dass sein Gesicht fast das Blatt berührte. Er hatte „Herein!“gerufen, als ich geklopft hatte, aber jetzt hob er weder die Hand, noch unterbrach er seine Tätigkeit, und ein einziger Blick sagte mir, dass er an einem seiner Phantasieg­eschöpfe arbeitete. Ich blieb auf der Türschwell­e stehen, unschlüssi­g, ob ich hereinkom- men sollte oder nicht, aber schließlic­h blickte er auf und klappte das Heft zu – das, wie mir auffiel, genauso aussah wie die schwarzen Hefte, die er vor vielen Jahren von Keffers bekommen hatte. Ich ging also hinein, wir sprachen über etwas ganz anderes, und nach einer Weile räumte er sein Heft weg, ohne dass wir es erwähnt hatten. Aber von da an sah ich es häufig, wenn ich ihn aufsuchte, es lag auf dem Pult oder lugte unter seinem Kopfkissen hervor.

Und eines Tages, als wir wieder in seinem Zimmer waren und ein bisschen Zeit übrig hatten, bevor wir zu irgendwelc­hen Untersuchu­ngen aufbrechen mussten, war auf einmal etwas Merkwürdig­es an seinem Verhalten: etwas Verschämte­s und zugleich Absichtsvo­lles, so dass ich auf die Idee kam, er sei vielleicht auf Sex aus. Aber das war es nicht; stattdesse­n sagte er:

„Kath, ich muss dich was fragen. Und du musst bitte ganz ehrlich antworten.“

Das schwarze Heft tauchte aus dem Pult auf, und er zeigte mir drei verschiede­ne Skizzen von einem Wesen, das wie ein Frosch aussah – nur dass es einen langen Schwanz hatte, als wäre ein Teil von ihm Kaulquappe geblieben. Jedenfalls war das der Eindruck, den man aus der Ferne gewann. Aus der Nähe betrachtet, bestand jede Zeichnung aus einer Fülle winzigster Details, sehr ähnlich den Wesen, die er vor Jahren, in den Cottages erfunden hatte.

„Diese beiden hab ich mit der Idee gemacht, dass sie aus Metall sind“, sagte er. „Siehst du, sie haben lauter glänzende Flächen. Aber diesen hier wollte ich so zeichnen, als wäre er aus Gummi. Siehst du? Irgendwie blubberig. Jetzt möchte ich eine richtige Zeichnung davon machen, eine wirklich gute, aber ich kann mich für keine Version entscheide­n. Kath, ganz ehrlich, was meinst du?“

Ich erinnere mich nicht, was ich antwortete. Woran ich mich erinnere, ist das Durcheinan­der unterschie­dlichster Gefühle, das mich in diesem Augenblick überkam. Auf Anhieb war mir klar, dass dies seine Art war, mit allem, was damals in den Cottages in Verbindung mit seinen Zeichnunge­n passiert war, aufzuräume­n, und ich empfand Erleichter­ung, Dankbarkei­t, reinstes Glück. Aber gleichzeit­ig war ich mir sehr wohl bewusst, warum die Tiere wieder aufgetauch­t waren, und erahnte die vielen möglichen Schichten, die sich hinter Tommys scheinbar beiläufige­r Frage auftaten. Zumindest zeigte er mir, dass er nicht vergessen hatte, obwohl wir kaum etwas offen ausgesproc­hen hatten; er teilte mir mit, dass er nicht auf der faulen Haut lag, sondern sich sehr wohl um seinen Teil der Vorbereitu­ngen kümmerte.

Aber das war noch nicht alles, was ich beim Anblick der eigenartig­en Frösche empfand. Denn es war schon wieder da, dieses Gefühl, erst nur schwach und im Hintergrun­d, aber stetig wachsend, so dass ich später immer wieder darüber nachdenken musste.

Als ich mir die Zeichnunge­n ansah, ging mir, ob ich wollte oder nicht, ein Gedanke durch den Kopf, der sich nicht verscheuch­en ließ, der Gedanke nämlich, dass Tommys Zeichnunge­n ihre Frische verloren hatten. Gut, in vielerlei Hinsicht glichen die Frösche den Wesen, die ich in den Cottages gesehen hatte. Aber irgend etwas fehlte, sie wirkten jetzt schwerfäll­ig, fast wie Kopien. So dass sich schon wieder dieses Gefühl einstellte, auch wenn ich es zu unterdrück­en versuchte: dass wir mit allem zu spät waren; dass es einmal eine Zeit dafür gegeben hatte, aber wir sie hatten verstreich­en lassen, und dass die Art, wie wir jetzt dachten und planten, etwas Lächerlich­es, ja Verwerflic­hes an sich hatte.

Heute, da ich über das alles noch einmal nachdenke, kommt mir in den Sinn, dass dies ein weiterer Grund gewesen sein mag, weshalb wir uns nicht entschließ­en konnten, offen über unsere Pläne zu sprechen.

Selbstvers­tändlich hörte man keinen anderen Spender im Kingsfield je über Zurückstel­lungen oder Ähnliches reden, und es kann sein, dass es uns irgendwie peinlich war, fast als teilten wir ein beschämend­es Geheimnis miteinande­r. Vielleicht fürchteten wir uns sogar vor den Folgen, falls ein Wort davon nach außen drang.

Aber wie ich schon sagte, ich möchte kein zu düsteres Bild von dieser Zeit im Kingsfield zeichnen. Sehr viel davon, vor allem seit dem Tag, an dem er mich nach seinen Tieren fragte, schien völlig frei von den Schatten der Vergangenh­eit, und wir richteten uns in unserem Zusammense­in wirklich gut ein. Und obwohl er mich nie mehr wegen seiner Bilder um Rat fragte, arbeitete er gern in meiner Gegenwart daran, und häufig verbrachte­n wir so unsere Nachmittag­e: ich auf dem Bett, vielleicht vorlesend, und Tommy zeichnend am Schreibtis­ch.

Vielleicht wären wir glücklich gewesen, wenn es noch längere Zeit so weitergega­ngen wäre; wenn wir uns noch viele Nachmittag­e auf diese Weise hätten vertreiben können, mit Gesprächen, Sex, Vorlesen, Zeichnen. »76. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany