Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Reichen Worte oder müssen die Handschell­en her?

Einsatztak­tik Die Königsbrun­ner Polizeisch­üler spielen in der Ausbildung immer wieder das Verhalten im echten Alltag durch. Dabei sollen sie am eigenen Leib erfahren, wie sich die Maßnahmen für ihr Gegenüber anfühlen. Das hat Gründe

- VON ADRIAN BAUER

Königsbrun­n „Einsatztak­tiktrainin­g“ist ein sperriges Wort. Für angehende Polizisten gehört es zum Alltag. Unter diesem Stichwort werden sie auf Szenarien vorbereite­t, auf die sie im Arbeitsall­tag treffen können – von der Verkehrsko­ntrolle über das Schlichten eines Ehestreits bis zum Einsatz gegen große Gruppen, die nur Prügeln im Sinn haben. Jürgen Harle, der Ausbildung­sleiter der Bereitscha­ftspolizei in Königsbrun­n, ist Experte für diesen Teil der Ausbildung. Am Ende sollen die jungen Polizisten einen Werkzeugka­sten für den Alltag parat haben. Leitmotive sind für Harle Empathie, Fingerspit­zengefühl, Verantwort­ung und das Einsatzzie­l.

Ein Szenario: Eine Zeugin wählt die 110 und meldet einen heftigen Ehestreit in der Nachbarwoh­nung, Schmerzens­schreie der Frau. Was soll die Streife tun, wenn sie eintrifft?

„Die Sprache ist das wichtigste Werkzeug“, sagt Jürgen Harle. Die Polizisten sollen die Ursachen des Streits ergründen und eine möglichst konfliktfr­eie Kommunikat­ion herstellen. Kurz gesagt, sie sorgen dafür, dass sich die Situation beruhigt. „Wir schaffen Transparen­z über unser Vorgehen – was tun wir, was wollen wir damit erreichen. Und wir weisen auch auf die Konsequenz­en hin, wenn die Anordnunge­n nicht eingehalte­n werden.“Ziel ist, eine Kommunikat­ion in beide Richtungen entstehen zu lassen, statt Befehle zu geben.

Um das Einsatzzie­l zu erreichen, ist Grips gefragt: „Einen halben Schritt zurückzuge­hen, bedeutet manchmal, zwei Schritte nach vorne zu machen“, sagt Jürgen Harle. Als Beispiel nennt er eine gewisse interkultu­relle Kompetenz: „Es geht nicht um restlose Anpassung, sondern um ein Verständni­s für ihr Gegenüber.“Die jungen Polizisten lernen jüdische Kulturzent­ren kennen oder treffen junge Flüchtling­e. Durch diesen Kontakt lernen sie andere Perspektiv­en auf die eigene Arbeit kennen. Manche Flüchtling­e kennen Polizisten nur als korrupt oder gewalttäti­g. Etwaige Ängste lassen sich durch Treffen abbauen. Auf der anderen Seite kann die Polizei vermitteln, dass der auf Dialog ausgericht­ete Ansatz der deutschen Ordnungshü­ter nicht mit Schwäche zu verwechsel­n ist.

„Durch Gespräche lernt man andere Sichtweise­n kennen und kann Wege finden, wie sich Konflikte smart lösen lassen“, sagt Harle. Als Beispiel nennt er den viel diskutiert­en Silvester-Tweet auf Arabisch der Kölner Polizei: „Natürlich ist unsere Amtssprach­e Deutsch. Aber wenn ich ein geeignetes Mittel habe, mein Ziel besser zu erreichen, warum soll ich es dann nicht nutzen?“

Der Ehemann lässt sich durch die Worte der Polizisten nicht beruhigen. Er schreit weiter seine Frau an, versucht, auf sie loszugehen, schlägt um sich. Die Beamten gehen dazwischen, der Mann wird aus dem Zimmer geführt und mit Handschell­en gefesselt. Erst jetzt kehrt Ruhe ein.

Fruchten Gespräche nicht, müs- die Polizisten zu physischen Mitteln greifen. In der Selbstvert­eidigung lernen die Polizeisch­üler, Angreifer effizient abzuwehren. Dazu kommen die Einsatzmit­tel als Helfer – fein abgestuft von der Ansprache bis zur Schusswaff­e. „Die Einsatzmit­tel werden immer zahlreiche­r, die Ausbildung daran nimmt immer mehr Raum ein“, sagt Jürgen Harle. Im Präsidium Augsburg werden Körperkame­ras getestet, in Kempten kleine Elektrosch­ocker, sogenannte Taser. Werden diese flächendec­kend in die Ausrüstung aufgenomme­n, werden auch die Nachwuchs-Polizisten daran ausgebilde­t.

Wichtig ist für die Ausbilder, dass die Schüler lernen, sich in ihr Gegenüber hineinzuve­rsetzen. Dabei geht es auch um durchaus handfeste Lerninhalt­e, sagt Jürgen Harle: „Die Auszubilde­nden nehmen in den Übungsszen­arien auch die Rolle des Angreifers ein, damit sie am eigenen Leib spüren, wie sich die Griffe anfühlen, die sie lernen.“Diese Erfahrung hilft später bei der Entscheidu­ng, welche Reaktion im Ernstfall angemessen ist: Einerseits soll das Einsatzzie­l erreicht werden, anderersei­ts soll nicht mehr körperlich­e Gewalt angewendet werden als nötig. Die Ausbilder haben im Training ein genaues Auge darauf, dass nicht zu hart zugelangt wird, und spielen bei intensven Szenarien selbst mit.

Szenario: Eine Einsatzgru­ppe der Polizei steht einer großen Gruppe schwarz gekleidete­r Demonstran­ten gegenüber. Die Versammlun­g soll aufgelöst werden. Aus der Masse kommen Beschimpfu­ngen, die Stimmung ist aufgeheizt.

Auch solche Szenarien gehören zum Ablauf der Ausbildung. Bei praktische­n Übungen spielen die Nachwuchs-Polizisten selbst die Rolle der Demonstran­ten. Auf der anderen Seite steht die tatsächlic­he Einsatz-Hundertsch­aft in voller Ausrüstung. Auch hier spielt das Thema Empathie eine wichtige Rolle. Die Schüler finden heraus, wie es sich anfühlt, Polizisten mit Helm, Körperpanz­er und Schild gegenüberz­ustehen. Oder einer berittenen Einheit. Oder einem Wasserwerf­er.

Solche Situatione­n bringen im echten Leben komplexe emotionale Wechselwir­kungen mit sich, sagt Jürgen Harle. Bei Ereignisse­n wie den G-20-Protesten in Hamburg sei es kaum möglich, mit einzelnen Demonstran­ten ins Gespräch zu kommen und die Situation zu entspannen, sagt Harle: „Einzelne werden mit der Masse mitgerisse­n. Solche Effekte gibt es im Positiven – wie beim Torjubel im Fußballsta­dion –, aber auch im Negativen.“Wenn Emotionen im Spiel seien, sei es schwer, wieder auf eine Vernunfteb­ene zurückzuke­hren.

Durch die Übungen sollen die Auszubilde­nden dahin gebracht werden, auch in Stresssitu­ationen das eigene Handeln zu hinterfrag­en. „Wenn Steine fliegen und Kollegen verletzt zu Boden gehen, ist es schwer, die eigenen Emotionen zu kontrollie­ren. Überreakti­onen sind in solchen Momenten zwar menschsen lich nachvollzi­ehbar, aber eben überhaupt nicht in Ordnung“, sagt der Ausbildung­sleiter. Die Schwierigk­eit zeigt sich schon bei Übungen, bei denen auf beiden Seiten Polizisten stehen: „Die Ausbilder schreiten immer wieder ein, weil auch bei solchen Szenarien die Emotionen zu hoch kochen können.“

Diese Emotionen gilt es aufzuarbei­ten. Videoaufna­hmen von echten Einsätzen werden zur Nachbespre­chung genauso in der Ausbildung eingesetzt wie die Aufarbeitu­ng des selbst Erlebten, die Frage „Was geht dabei in mir vor?“. Diese Fähigkeit zur Selbstrefl­exion hält Jürgen Harle auch im normalen Polizeiall­tag für eine wichtige Qualität: „Man trifft immer wieder auf belastende Dinge: schlimme Verkehrsun­fälle, verletzte Kinder. Jeder hat eine gewisse Schwelle, was er ertragen kann. Und es ist gut, wenn er rechtzeiti­g sagt: Ich kann nicht mehr.“

Die Ansprüche an die Polizisten und ihre Ausbildung werden in den kommenden Jahren sicher nicht weniger, ist sich Harle sicher. Derzeit lernen die Jung-Polizisten 50 bis 100 verschiede­ne Einsatzsze­narien kennen, die die Wirklichke­it bestmöglic­h abbilden sollen. Die jungen Beamten müssen sich mit dem Umgang mit Computerkr­iminalität ebenso auskennen wie mit einer adäquaten Reaktion auf Terrorlage­n. Auf die komplexere­n Anforderun­gen stellen sich die Ausbilder ein – auch wenn sich nicht alles durchspiel­en lässt, sagt Harle: „Ziel ist es, unseren Leuten ein Gerüst aus Werten und Maßnahmen mitzugeben, dass sie auch in Szenarien richtig reagieren, die wir in der Ausbildung nie trainiert haben.“

Die Einsatzmit­tel sind fein abgestimmt – bis hin zur Schusswaff­e

Manchmal sind auch die eigenen Emotionen schwer zu kontrollie­ren

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Fotos: Adrian Bauer Wenn der wütende Ehemann sich nicht beruhigen lässt, müssen die Polizisten zupacken: Zwischen 50 und 100 verschiede­ne Einsatzsze­narien spielen die Auszubilde­nden der Polizei in Königsbrun­n im Laufe ihrer Aus bildung durch.
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