Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Reichen Worte oder müssen die Handschellen her?
Einsatztaktik Die Königsbrunner Polizeischüler spielen in der Ausbildung immer wieder das Verhalten im echten Alltag durch. Dabei sollen sie am eigenen Leib erfahren, wie sich die Maßnahmen für ihr Gegenüber anfühlen. Das hat Gründe
Königsbrunn „Einsatztaktiktraining“ist ein sperriges Wort. Für angehende Polizisten gehört es zum Alltag. Unter diesem Stichwort werden sie auf Szenarien vorbereitet, auf die sie im Arbeitsalltag treffen können – von der Verkehrskontrolle über das Schlichten eines Ehestreits bis zum Einsatz gegen große Gruppen, die nur Prügeln im Sinn haben. Jürgen Harle, der Ausbildungsleiter der Bereitschaftspolizei in Königsbrunn, ist Experte für diesen Teil der Ausbildung. Am Ende sollen die jungen Polizisten einen Werkzeugkasten für den Alltag parat haben. Leitmotive sind für Harle Empathie, Fingerspitzengefühl, Verantwortung und das Einsatzziel.
Ein Szenario: Eine Zeugin wählt die 110 und meldet einen heftigen Ehestreit in der Nachbarwohnung, Schmerzensschreie der Frau. Was soll die Streife tun, wenn sie eintrifft?
„Die Sprache ist das wichtigste Werkzeug“, sagt Jürgen Harle. Die Polizisten sollen die Ursachen des Streits ergründen und eine möglichst konfliktfreie Kommunikation herstellen. Kurz gesagt, sie sorgen dafür, dass sich die Situation beruhigt. „Wir schaffen Transparenz über unser Vorgehen – was tun wir, was wollen wir damit erreichen. Und wir weisen auch auf die Konsequenzen hin, wenn die Anordnungen nicht eingehalten werden.“Ziel ist, eine Kommunikation in beide Richtungen entstehen zu lassen, statt Befehle zu geben.
Um das Einsatzziel zu erreichen, ist Grips gefragt: „Einen halben Schritt zurückzugehen, bedeutet manchmal, zwei Schritte nach vorne zu machen“, sagt Jürgen Harle. Als Beispiel nennt er eine gewisse interkulturelle Kompetenz: „Es geht nicht um restlose Anpassung, sondern um ein Verständnis für ihr Gegenüber.“Die jungen Polizisten lernen jüdische Kulturzentren kennen oder treffen junge Flüchtlinge. Durch diesen Kontakt lernen sie andere Perspektiven auf die eigene Arbeit kennen. Manche Flüchtlinge kennen Polizisten nur als korrupt oder gewalttätig. Etwaige Ängste lassen sich durch Treffen abbauen. Auf der anderen Seite kann die Polizei vermitteln, dass der auf Dialog ausgerichtete Ansatz der deutschen Ordnungshüter nicht mit Schwäche zu verwechseln ist.
„Durch Gespräche lernt man andere Sichtweisen kennen und kann Wege finden, wie sich Konflikte smart lösen lassen“, sagt Harle. Als Beispiel nennt er den viel diskutierten Silvester-Tweet auf Arabisch der Kölner Polizei: „Natürlich ist unsere Amtssprache Deutsch. Aber wenn ich ein geeignetes Mittel habe, mein Ziel besser zu erreichen, warum soll ich es dann nicht nutzen?“
Der Ehemann lässt sich durch die Worte der Polizisten nicht beruhigen. Er schreit weiter seine Frau an, versucht, auf sie loszugehen, schlägt um sich. Die Beamten gehen dazwischen, der Mann wird aus dem Zimmer geführt und mit Handschellen gefesselt. Erst jetzt kehrt Ruhe ein.
Fruchten Gespräche nicht, müs- die Polizisten zu physischen Mitteln greifen. In der Selbstverteidigung lernen die Polizeischüler, Angreifer effizient abzuwehren. Dazu kommen die Einsatzmittel als Helfer – fein abgestuft von der Ansprache bis zur Schusswaffe. „Die Einsatzmittel werden immer zahlreicher, die Ausbildung daran nimmt immer mehr Raum ein“, sagt Jürgen Harle. Im Präsidium Augsburg werden Körperkameras getestet, in Kempten kleine Elektroschocker, sogenannte Taser. Werden diese flächendeckend in die Ausrüstung aufgenommen, werden auch die Nachwuchs-Polizisten daran ausgebildet.
Wichtig ist für die Ausbilder, dass die Schüler lernen, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Dabei geht es auch um durchaus handfeste Lerninhalte, sagt Jürgen Harle: „Die Auszubildenden nehmen in den Übungsszenarien auch die Rolle des Angreifers ein, damit sie am eigenen Leib spüren, wie sich die Griffe anfühlen, die sie lernen.“Diese Erfahrung hilft später bei der Entscheidung, welche Reaktion im Ernstfall angemessen ist: Einerseits soll das Einsatzziel erreicht werden, andererseits soll nicht mehr körperliche Gewalt angewendet werden als nötig. Die Ausbilder haben im Training ein genaues Auge darauf, dass nicht zu hart zugelangt wird, und spielen bei intensven Szenarien selbst mit.
Szenario: Eine Einsatzgruppe der Polizei steht einer großen Gruppe schwarz gekleideter Demonstranten gegenüber. Die Versammlung soll aufgelöst werden. Aus der Masse kommen Beschimpfungen, die Stimmung ist aufgeheizt.
Auch solche Szenarien gehören zum Ablauf der Ausbildung. Bei praktischen Übungen spielen die Nachwuchs-Polizisten selbst die Rolle der Demonstranten. Auf der anderen Seite steht die tatsächliche Einsatz-Hundertschaft in voller Ausrüstung. Auch hier spielt das Thema Empathie eine wichtige Rolle. Die Schüler finden heraus, wie es sich anfühlt, Polizisten mit Helm, Körperpanzer und Schild gegenüberzustehen. Oder einer berittenen Einheit. Oder einem Wasserwerfer.
Solche Situationen bringen im echten Leben komplexe emotionale Wechselwirkungen mit sich, sagt Jürgen Harle. Bei Ereignissen wie den G-20-Protesten in Hamburg sei es kaum möglich, mit einzelnen Demonstranten ins Gespräch zu kommen und die Situation zu entspannen, sagt Harle: „Einzelne werden mit der Masse mitgerissen. Solche Effekte gibt es im Positiven – wie beim Torjubel im Fußballstadion –, aber auch im Negativen.“Wenn Emotionen im Spiel seien, sei es schwer, wieder auf eine Vernunftebene zurückzukehren.
Durch die Übungen sollen die Auszubildenden dahin gebracht werden, auch in Stresssituationen das eigene Handeln zu hinterfragen. „Wenn Steine fliegen und Kollegen verletzt zu Boden gehen, ist es schwer, die eigenen Emotionen zu kontrollieren. Überreaktionen sind in solchen Momenten zwar menschsen lich nachvollziehbar, aber eben überhaupt nicht in Ordnung“, sagt der Ausbildungsleiter. Die Schwierigkeit zeigt sich schon bei Übungen, bei denen auf beiden Seiten Polizisten stehen: „Die Ausbilder schreiten immer wieder ein, weil auch bei solchen Szenarien die Emotionen zu hoch kochen können.“
Diese Emotionen gilt es aufzuarbeiten. Videoaufnahmen von echten Einsätzen werden zur Nachbesprechung genauso in der Ausbildung eingesetzt wie die Aufarbeitung des selbst Erlebten, die Frage „Was geht dabei in mir vor?“. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion hält Jürgen Harle auch im normalen Polizeialltag für eine wichtige Qualität: „Man trifft immer wieder auf belastende Dinge: schlimme Verkehrsunfälle, verletzte Kinder. Jeder hat eine gewisse Schwelle, was er ertragen kann. Und es ist gut, wenn er rechtzeitig sagt: Ich kann nicht mehr.“
Die Ansprüche an die Polizisten und ihre Ausbildung werden in den kommenden Jahren sicher nicht weniger, ist sich Harle sicher. Derzeit lernen die Jung-Polizisten 50 bis 100 verschiedene Einsatzszenarien kennen, die die Wirklichkeit bestmöglich abbilden sollen. Die jungen Beamten müssen sich mit dem Umgang mit Computerkriminalität ebenso auskennen wie mit einer adäquaten Reaktion auf Terrorlagen. Auf die komplexeren Anforderungen stellen sich die Ausbilder ein – auch wenn sich nicht alles durchspielen lässt, sagt Harle: „Ziel ist es, unseren Leuten ein Gerüst aus Werten und Maßnahmen mitzugeben, dass sie auch in Szenarien richtig reagieren, die wir in der Ausbildung nie trainiert haben.“
Die Einsatzmittel sind fein abgestimmt – bis hin zur Schusswaffe
Manchmal sind auch die eigenen Emotionen schwer zu kontrollieren