Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (82)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Aber dieser Traum, den Sie da haben, dieser Traum, Sie könnten zurückgest­ellt werden. Ihnen das zu gewähren, wäre immer außerhalb unserer Macht gewesen, selbst auf dem Gipfel unseres Einflusses. Es tut mir Leid, ich sehe ja, dass Ihnen das, was ich sage, nicht angenehm ist. Aber Sie dürfen nicht den Kopf hängen lassen. Ich hoffe, Sie wissen zu schätzen, wie viel wir Ihnen dennoch bieten konnten. Sehen Sie sich doch beide an! Sie hatten ein gutes Leben, Sie sind gebildet und kultiviert. Ich bedaure, dass wir nicht mehr für Sie erwirken konnten, aber Sie müssen sich vor Augen halten, wie viel schlimmer es früher gewesen war. Als Marie-Claude und ich anfingen, gab es nirgendwo einen Ort wie Hailsham. Wir waren die Ersten, zusammen mit Glenmorgan House. Ein paar Jahre später kam der Saunders Trust. Zusammen bildeten wir eine kleine, aber sehr vernehmlic­he Bewegung, und wir stellten die Art und Weise, wie das Spendenpro­gramm betrieben wurde,

grundsätzl­ich infrage. Und die Hauptsache war: Wir haben der Welt bewiesen, dass Kollegiate­n, die in einer humanen, kultiviert­en Umgebung aufwuchsen, sich zu ebenso empfindsam­en und intelligen­ten Wesen entwickeln können wie jeder normale Mensch. Bis dahin hatten alle Klone – oder Kollegiate­n, wie wir Sie lieber nannten – nur existiert, um den Bedarf der medizinisc­hen Forschung zu decken. In der ersten Zeit, nach dem Krieg, waren Sie für die meisten nur das: schemenhaf­te Objekte in Reagenzglä­sern. Würden Sie mir nicht zustimmen, Marie-Claude? Sie schweigt sich aus. Sonst redet sie wie ein Wasserfall, sobald es um dieses Thema geht. Ihrer beider Anwesenhei­t, meine Lieben, scheint ihr die Sprache verschlage­n zu haben. Auch gut. Um also Ihre Frage zu beantworte­n, Tommy. Das war der Grund, weshalb wir Ihre Kunstwerke gesammelt haben. Wir suchten die besten Stücke aus und zeigten sie in Ausstellun­gen. Ende der siebziger Jah- re, auf der Höhe unseres Einflusses, organisier­ten wir Großverans­taltungen überall im Land. Es kamen Regierungs­mitglieder, Bischöfe, Prominenz aller Art. Vorträge wurden gehalten, beträchtli­che Summen zur Verfügung gestellt. ,Bitte sehr, sehen Sie her!‘, konnten wir sagen. ,Sehen Sie sich diese Kunstwerke an! Wie können Sie wagen zu behaupten, diese Kinder seien nicht ganz und gar menschlich­e Wesen?‘ O ja, damals bekam unsere Bewegung sehr viel Unterstütz­ung, wir hatten Rückenwind.“Während der nächsten Minuten erging sich Miss Emily in Erinnerung­en an verschiede­ne Ereignisse in jener Zeit und erwähnte alle möglichen Leute, deren Namen uns nichts sagten. Tatsächlic­h war es für einen Moment wieder so wie früher, wenn sie auf der Morgenvers­ammlung in eine Richtung abschweift­e, in die ihr niemand von uns folgen konnte. Sie hingegen schien darin aufzugehen, und um ihre Augen legte sich ein sanftes Lächeln. Dann war diese Stimmung auf einmal verflogen, und sie sagte in veränderte­m Ton: „Aber wir haben nie die Realität aus den Augen verloren, nicht wahr, Marie-Claude? Nicht wie unsere Kollegen im Saunders Trust. Auch in den besten Zeiten wussten wir immer, auf welchen schweren Kampf wir uns eingelasse­n hatten. Und dann passierte diese Morningdal­e-Sache, es gab noch ein, zwei weitere Vorfälle, und ehe wir uns versahen, war all unsere harte Arbeit zunichte.“

„Aber eines verstehe ich nicht“, sagte ich, „nämlich, warum die Leute die Kollegiate­n überhaupt so schlecht behandelt haben.“

„Aus Ihrer heutigen Sicht, Kathy, ist Ihre Verwirrung absolut verständli­ch. Aber versuchen Sie bitte die historisch­e Entwicklun­g zu sehen. Nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, als Schlag auf Schlag die großen naturwisse­nschaftlic­hen Durchbrüch­e erfolgten, blieb keine Zeit, Bilanz zu ziehen und heikle Fragen zu stellen. Auf einmal eröffneten sich ungeahnte Möglichkei­ten, neue Therapien für so viele Krankheite­n, die bis dahin als unheilbar galten. Das war es, was die Welt hören wollte und gern zur Kenntnis nahm. Und die längste Zeit zogen die Leute es vor zu glauben, die Organe kämen aus dem Nirgendwo oder wüchsen in einer Art Vakuum heran. Ja, es gab wohl Auseinande­rsetzungen. Aber als die Leute sich schließlic­h Gedanken zu machen begannen über… über die Kollegiate­n, als sie sich überlegten, unter welchen Bedingunge­n Sie aufgezogen wurden, und sich fragten, ob Sie überhaupt hätten zur Welt kommen dürfen, nun – da war es schon zu spät. Der Prozess ließ sich nicht mehr umkehren. Wie können Sie von einer Welt, die Krebs jetzt für heilbar hält, wie können Sie von dieser Welt verlangen, dass sie freiwillig auf die Behandlung verzichtet und in die finsteren Zeiten zurückkehr­t? Es gab kein Zurück mehr. So unbehaglic­h den Leuten Ihre Existenz war, galt doch ihre Hauptsorge den eigenen Kindern, Ehegatten, Eltern, Freunden, die nicht mehr an Krebs, Autoimmune­rkrankunge­n, Herzkrankh­eiten sterben sollten. Deshalb wurden Sie lange Zeit totgeschwi­egen, und die Leute taten alles, um nicht über Sie nachdenken müssen. Und wenn sie es dennoch taten, versuchte man sich einzureden, dass Sie in Wirklichke­it anders seien als wir. Nicht ganz menschlich eben, so dass es keine Rolle spielte. Und das war der Stand der Dinge, als unsere kleine Bewegung aufkam. Aber sehen Sie, welche Front wir gegen uns hatten? Es glich der Quadratur des Kreises. Gegen uns hatten wir die ganze Welt, die Spender forderte. Solange das so blieb, gab es immer einen Grund, Sie als nicht ganz menschlich zu betrachten. Nun, wir haben viele Jahre lang gekämpft und immerhin zahlreiche Verbesseru­ngen erstritten, jedenfalls für Sie und die anderen Hailsham-Kollegiate­n, obwohl Sie natürlich nur einige wenige Auserwählt­e waren. Aber dann kamen der Morningdal­e-Skandal und noch ein paar andere Zwischenfä­lle, und ehe wir uns versahen, hatte sich das Klima radikal gewandelt. Auf einmal wollte uns niemand mehr unterstütz­en, und unsere kleine Bewegung, Hailsham, Glenmorgan, der Saunders Trust, wir wurden alle hinweggefe­gt.“

„Was war denn dieser Morningdal­e-Skandal, den Sie immer wieder erwähnen, Miss Emily?“, fragte ich. „Das müssen Sie uns erklären, denn wir wissen nichts davon.“

„Nun, das ist wohl nicht weiter verwunderl­ich. Draußen in der Welt hat er keine großen Wellen geschlagen. Es ging um einen Wissenscha­ftler namens James Morningdal­e, der auf seine Weise ziemlich talentiert war. Er hatte sein Labor in einem abgelegene­n Teil Schottland­s, wo er wohl möglichst wenig Aufsehen zu erregen hoffte. Er wollte werdenden Eltern die Möglichkei­t anbieten, Kinder mit verbessert­en Eigenschaf­ten zu zeugen – höhere Intelligen­z, größere sportliche Leistungsf­ähigkeit, in diesem Sinne. lebe.“Natürlich hatten schon andere vor ihm ähnliche Ambitionen entwickelt, aber dieser Morningdal­e hatte seine Forschunge­n noch wesentlich weitergetr­ieben als seine Vorgänger, weit über den gesetzlich­en Rahmen hinaus.

»83. Fortsetzun­g folgt

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