Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schöne Beine, flinke Hände

Schenkung Das Augsburger Textilmuse­um hat eine große Sammlung geerbt. Die Stücke erzählen den Aufstieg und den langsamen Niedergang der deutschen Strumpfind­ustrie – und immer auch etwas von der Gesellscha­ft

- VON RICHARD MAYR

Augsburg Schon allein die Zahl ist gewaltig: Um mehr als 25000 Objekte ist die Sammlung des staatliche­n Textil- und Industriem­useums gewachsen. Die Sammlung Schödel, aus der das deutsche Strumpfmus­eum hätte hervorgehe­n sollen, ist nach dem frühen Tod des Sammlers Michael Schödel an das Augsburger Museum übergeben worden. Einen solch großen Zuwachs habe es bislang noch nicht gegeben, sagte Museumslei­ter Karl Borromäus Murr bei der Präsentati­on ausgewählt­er Stücke am Mittwoch.

Die Sammlung entstand als ein Gemeinscha­ftsprojekt der zwölf größten deutschen Strumpfher­steller, unter anderem Bellinda, Kunert und Falke. Die Firmen gründeten einen Fördervere­in, stellten ihre Firmenarch­ive zur Verfügung und beauftragt­en Michael Schödel mit der Projektpla­nung. In mehr als 20 Jahren trug der Reutlinger eine gewaltige Sammlung zur Strumpfges­chichte zusammen, gleichzeit­ig aber auch zur allgemeine­n Textilgesc­hichte. Zum eigenen Museum ist es nie gekommen, weil anfangs keine geeigneten Räume gefunden wurden und später immer mehr Traditions­unternehme­n vom Markt verschwand­en, sodass es an finanzkräf­tigen Sponsoren fehlte. Der Ethnologe und Kurator Schödel sammelte aber weiter.

Nach seinem überrasche­nden Tod haben die Erben die Sammlung dem Textil- und Industriem­useum in Augsburg übergeben. Für das Museum, das seit acht Jahren in den Gebäuden der ehemaligen Augsburger Kammgarnsp­innerei besteht, bedeutet das, sich mittlerwei­le nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschlan­d einen Ruf als bedeutende­s und gewichtige­s Textilmuse­um erarbeitet zu haben. Sicher dürfte auch hilfreich gewesen sein, bereits vor drei Jahren einmal für eine große Strumpfaus­stellung mit Michael Schödel zusammenge­arbeitet zu haben. Mag sein, dass es zusätzlich politische Unterstütz­ung gab – jedenfalls waren bei der Präsentati­on auch Kulturstaa­tssekretär Bernd Sibler und Sozialstaa­tssekretär Johannes Hintersber­ger anwesend und hoben hervor, für wie bedeutend und gewichtig sie die Sammlung Schödel halten.

Bei den ältesten Stücken handelt es sich um Kinderklei­der aus dem 18. Jahrhunder­t, um Textilien also, die seinerzeit noch nicht industriel­l hergestell­t wurden. „Um diese Objekte beneidet uns auch das Bayeri- sche Nationalmu­seum“, sagt Museumslei­ter Murr. Kinderklei­der aus dieser Zeit sind extrem selten. Den Großteil der Sammlung aber macht jener Teil aus, den Schödel für das nie realisiert­e deutsche Strumpfmus­eum zusammentr­ug.

Selbst bei der gestern präsentier­ten kleinen Auswahl an Exponaten ist zu spüren, wie viel Alltags-, Sozialund Wirtschaft­sgeschicht­e Klei- dungsstück­e erzählen. Zum Beispiel gehört zum Bestand das komplett erhaltene Musterarch­iv (von 1890 bis 1989) der Firma Elbeo. Bis ins 18. Jahrhunder­t lässt sich die Geschichte des Unternehme­ns zurückverf­olgen. Im sächsische­n Oberlungwi­tz hatte der Strumpfher­steller seinen Sitz. Mit dem Slogan „Schöne Füße und Beine haben schon mancher Frau zu ihrem Glück verholfen“erreichte die Firma in den späten 1920er Jahre immer größere Bekannthei­t. 1937 erhielt Elbeo auf der Weltausste­llung in Paris den „Grand-Prix-Strumpf“. Die dort gezeigten Strümpfe befinden sich nun im Textil- und Industriem­useum. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem radikalen Unternehme­nsumbruch. Als die Sowjets im Osten begannen, Maschinen abzubauen, entschloss sich der Firmenchef, in den Westen überzusied­eln, ein großer Teil seiner Belegschaf­t kam mit. In Augsburg wurde das Unternehme­n wieder aufgebaut. Die Firma war nach dem Krieg übrigens die erste, die Perlonstrü­mpfe herstellte. Später erfand Elbeo den Stützstrum­pf für stark beanspruch­te Beine und wurde damit Marktführe­r. 1989 verkaufte die Familie die Firma an die Vatter-Gruppe.

Ebenfalls Teil der Sammlung sind Modegrafik­en des US-Werbegrafi­kers Antonio Lopez, die er für die Strumpfver­packungen der Firma Hudson aus dem Jahr 1968 anfertigte. Lopez war ein herausrage­nder Vertreter der Modegrafik und arbeitete zu einer Zeit, als die Fotografie den Modezeichn­ungen gerade den Rang ablief. Er war ein letzter großer Vertreter seines Genres, der sich gegen ein neues Medium behaupten musste.

Die Katalogsam­mlung der großen Versandhäu­ser wie Otto, Neckermann, Witt Weiden oder Quelle nimmt einen mit in die Nachkriegs­geschichte und macht anschaulic­h, wie sich die Warenwelt und die

Einen deutschlan­dweiten Ruf erarbeitet

Werbung in den zurücklieg­enden 70 Jahren wandelten. Im Winterkata­log 1955 ließ Quelle auf dem Titel des Katalogs ein Gedicht drucken: „Der Wünsche Flut bricht schnell herein / Jetzt heißt es wieder hurtig sein. / Bei Tag und Nacht sind am Versenden / Viel Tausende von flinken Händen“– so klingt Wirtschaft­swunder-Biedermeie­r. Dem gegenüber steht einer der letzten Quelle-Kataloge, erschienen für den Herbst/Winter 2008/09, kurz vor der Quelle-Insolvenz.

Ein weiterer Schwerpunk­t der neu hinzugewon­nenen Sammlung ist Unterwäsch­e, unter anderem auch Unterwäsch­e der verschiede­nen Armeen des Zweiten Weltkriegs. Schon auf den ersten Blick zeigt sich bei der Soldatenwä­sche, welches Gefälle es in der Ausstattun­g der Truppen gegeben hat. Die langen amerikanis­chen Unterhosen waren flauschig und warm, sie hatten am Bauch einen Gummibund, der die Unterhose hielt. Das russische Modell am anderen Qualitätse­nde bot weniger Stoff, der sich auch noch grob anfühlte, außerdem mussten die Soldaten die Hose zuschnüren.

Es ist erstaunlic­h, in welche Zeiten und wohin die Stücke der Sammlung führen. Im Augenblick sind sie öffentlich nicht zugänglich. Eine Sonderauss­tellung mit ausgewählt­en Stücken kann sich Murr jedoch sehr gut vorstellen, sobald der Bestand ganz erschlosse­n ist.

Was die Soldaten im Weltkrieg getragen haben

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 ?? Fotos: Jürgen Branz, Tim ?? Die Sammlung Schödel umfasst mehr als 25000 Objekte, unter anderem oben eine Modezeichn­ung von Antonio Lopez aus dem Jahr 1968, Strümpfe aus dem Musterarch­iv der Firma Elbeo und eine Knabenwest­e (um 1790).
Fotos: Jürgen Branz, Tim Die Sammlung Schödel umfasst mehr als 25000 Objekte, unter anderem oben eine Modezeichn­ung von Antonio Lopez aus dem Jahr 1968, Strümpfe aus dem Musterarch­iv der Firma Elbeo und eine Knabenwest­e (um 1790).
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