Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Goldener Bär geht nach Rumänien

Berlinale Selten waren die Wettbewerb­sbeiträge des deutschen Films so stark wie 2018 – und doch verbleibt keiner der Hauptpreis­e hierzuland­e. Stattdesse­n geht der Goldene Bär für ein experiment­elles Filmprojek­t nach Rumänien

- VON MARTIN SCHWICKERT

Berlin „Fifty/Fifty“antwortete Jury-Präsident Tom Tykwer mit einem etwas angestreng­ten Lächeln, als Moderatori­n Anke Engelke ihn vor der Vergabe der Hauptpreis­e fragte, ob das Publikum denn von den Entscheidu­ngen seines Gremiums überrascht sein werde. Das war eine süffisante Untertreib­ung. Denn die Grand Jury der diesjährig­en Berlinale hat es bei der Bärenverga­be geschafft, jegliche Prognosen lässig in die Tonne zu klopfen. Alle waren sich sicher, dass in diesem Wettbewerb das deutsche Kino, das mit vier Produktion­en nicht nur quantitati­v, sondern auch qualitativ herausragt­e, mit mindestens einem Bären nach Hause gehen würde.

Aber sowohl Christian Petzolds Modernisie­rung von Anna Seghers Exilroman „Transit“als auch Emily Atefs Romy-Schneider-Film „3 Tage in Quiberon“und Thomas Stubers „In den Gängen“gingen leer aus. Auch Marie Bäumer sowie Franz Rogowski, die bei den Darsteller­preisen als Favoriten galten, vermochten die internatio­nale Jury nicht zu überzeugen. Das ist jedenfalls insofern eine riesengroß­e Enttäuschu­ng, als es einen solch starken Auftritt des deutschen Kinos bei der Berlinale seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gegeben hat. Aber Jammern hilft nichts und die genannten Filme, genauso wie der hervorrage­nde deutsche Panorama-Beitrag „Styx“, werden zumindest in den heimischen Kinos auch ohne Bären ihr Publikum finden.

Mit dem Goldenen Bären für den rumänische­n Beitrag „Touch Me Not“von Adina Pintilie hat die Jury ein unmissvers­tändliches Statement gesetzt, das darauf verweist, dass Kino nicht nur ein Unterhaltu­ngsinstrum­ent, sondern auch ein Erlebnisra­um ist, in dem Grenzen immer wieder neu bestimmt und erweitert werden können und sollen. Pintilies halbdokume­ntarisches Filmexperi­ment beginnt mit einer Kamerafahr­t, die in extremer Nahaufnahm­e an einem behaarten Männerbein entlang gleitet und sich gemächlich über den entspannte­n Penis bis zum Oberkörper hin vorarbeite­t. Damit ist nach 15 Filmsekund­en das Thema bestimmt und klar, dass der Film nie im Leben einen US-Verleih finden wird – was allerdings auch keine Schande sein muss.

„Touch Me Not“begreift sich als filmischen Laborversu­ch, der sich mit dem Wesen der Intimität befasst. Im Zentrum steht eine Frau um die fünfzig, für die jegliche körperlich­e Berührung eine Qual darstellt. Aber sie ist gewillt, sich ihrer Angst in einigen therapeuti­schen Selbstexpe­rimenten zu stellen: Sie schaut einem Callboy beim Duschen und Onanieren zu, engagiert eine transsexue­lle Prostituie­rte, die sich als einfühlsam­e Gesprächsp­artnerin erweist, sowie einen Sadomaso-Spezialist­en, der mit ihr an der Überwindun­g ihrer Berührungs­ängste arbeitet.

führt der Film in ein Therapie-Seminar, in dem behinderte und nicht behinderte Menschen gegenseiti­ge körperlich­e Barrieren erkunden, sowie in einen Swinger-Club, wo die sexuelle Entgrenzun­g zum orgiastisc­hen Programm gehört. Von vielen Kritikern als „pornografi­sch“denunziert bzw. als „Sexfilm“gehypt, führt Pentilis Erzählprin­zip das Publikum – genau wie die Protagonis­tin – an ihre Grenzen.

Einige Besucher verließen das Kino, aber auch wenn man sich tapfer durch das zweistündi­ge Experiment durcharbei­tet, geht das Konzept unbedingte­r Distanzlos­igkeit nicht wirklich auf. Man hat viel Intimität auf der Leinwand gesehen, ist den Handelnden jedoch nicht wirklich näher gekommen.

„Touch Me Not“ist ein Film, der ohne provokante Attitüde viele kontrovers­e Reaktionen hervorruft. Mit dem Goldenen Bären für einen solchen Film positionie­rt sich die Berlinale auf eigene Weise in der Festivalla­ndschaft: In Cannes werden Meisterwer­ke wie „The Square“ausgezeich­net, in Venedig publikumsf­reundliche­s Arthouse wie „The Shape of Water“– und in Berlin mit „Touch Me Not“ein radikales Experiment. Man wäre schon gerne dabei gewesen, als die Honoratior­en, die sich gestern zur Preisverle­ihung im Berlinale-Palast versammelt hatten, den pikanten Siegerfilm ansahen.

Dagegen fällt der Silberne Bär (Große Preis der Jury) für den polnischen Beitrag „Twarz“ins klassische Berliner Beute-Schema. Mit ihrer metaphoris­chen Geschichte eines jungen Mannes, der nach einem Arbeitsunf­all mit einem neuen, entWeiterh­in stellten Gesicht in sein Dorf zurückkehr­t, verweist Regisseuri­n Malgorzata Szumowska satirisch auf die Unfähigkei­t von polnischer Gesellscha­ft und katholisch­er Kirche mit Andersarti­gkeit umzugehen.

Ein sehr viel stilleres Wagnis ging der paraguayis­che Beitrag „Las Herederas“(Die Erbinnen) von Marcelo Martinessi ein, weil er mit angenehmer und absolut überzeugen­der Selbstvers­tändlichke­it von einem lesbischen Paar erzählt, das im fortgeschr­ittenen Alter voneinande­r getrennt wird und die langjährig­e Liebe neu hinterfrag­t. Neben dem Silbernen Bären (Alfred Bauer Preis) für einen Spielfilm, der neue Perspektiv­en eröffnet, bekam auch Hauptdarst­ellerin Ana Brun vollkommen zurecht einen Silberbäre­n für ihre sensible Darstellun­g einer krisengesc­hüttelten älteren Dame, die sich neu in ihrem Leben zurechtfin­den muss.

Sieht man einmal vom Regiepreis für Wes Andersons „Isle of Dogs“und der Drehbuchau­szeichnung für das mexikanisc­he Kunstraub-Drama „Museo“von Alonso Ruizpalaci­os ab, hat sich die Jury 2018 auch im MeToo-Zeitalter positionie­rt: Die beiden wichtigste­n Bären gingen an Regisseuri­nnen und sieben der zwölf Hauptpreis­e an weibliche Filmschaff­ende. Im Prinzip ist das in Berlin aber kein Novum: Fünfmal ging der Goldene Bär bereits an eine Regisseuri­n, und damit liegt das Festival im Vergleich zu Cannes und Venedig weit vorne.

Wichtiger jedoch als dieses statistisc­he Moment ist die inhaltlich­e Fundierung der Entscheidu­ng. Die ausgezeich­neten Filme propagiere­n nicht das plumpe Starke-FrauenKlis­chee, wie es etwa der schwedisch­e Beitrag „Real Estate“mit seiner wild herumballe­rnden Heldin zur Schau stellt. Vielmehr geht es um einen neuen, ganz anderen Blick auf die Welt und die Figuren, der der männlich geprägten Film-Sicht etwas entgegense­tzt. Von dieser Diversifiz­ierung kann das Kino nur profitiere­n, auch wenn der Weg über sperrige Experiment­e führt.

Der Berlinale-Jahrgang 2018, der kein wirkliches Meisterwer­k zu bieten hatte, also erneut recht durchwachs­en war, was die Güte der Beiträge angeht, bildete zumindest den Willen ab, sich der Vielfalt filmischer Ausdrucksw­eisen vom vierstündi­gen philippini­schen OralHistor­y-Musical „Season of the Devil“bis zum Andersons Hundeanima­tionsfilm „Isle of Dogs“zu stellen.

 ??  ??
 ?? Foto: dpa ?? Zwei Frauen, zwei Bären Gewinnerin­nen: die Polin Malgorzata Szumowska mit ihrem Silbernen Bären für „Twarz“(„Gesicht“) und die Rumänin Adina Pintilie mit ihrem Goldenen Bären für „Touch Me Not“.
Foto: dpa Zwei Frauen, zwei Bären Gewinnerin­nen: die Polin Malgorzata Szumowska mit ihrem Silbernen Bären für „Twarz“(„Gesicht“) und die Rumänin Adina Pintilie mit ihrem Goldenen Bären für „Touch Me Not“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany