Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Zerrissen bis ins Hinterzimm­er

Politik Noch diese Woche können SPD-Mitglieder abstimmen, ob ihre Partei in eine neue Große Koalition eintreten soll. An der Basis wird darüber leidenscha­ftlich gestritten. Eine Geschichte über alte Probleme, die Angst vor Neuwahlen und die vermeintli­che

- VON MICHAEL BÖHM

Augsburg/Ichenhause­n/Ulm Leicht nach vorne gebeugt sitzt Manfred Bock da, die Brille auf der Nase, den Finger auf der neuesten Ausgabe des Vorwärts. Er liest, schüttelt den Kopf und schimpft: „Alles WischiWasc­hi!“Der 75-Jährige blättert weiter in der SPD-Parteizeit­ung und der darin abgedruckt­en Fassung des Koalitions­vertrags mit der Union. Bock hat daheim unzählige Passagen angestrich­en, die ihm offenbar besonders absurd vorkommen. An diesem Abend will er darüber reden, hier im Hinterzimm­er des „Gasthauses zur Eisenbahn“.

Die Sitzmöbel sind in die Jahre gekommen, die Polster abgewetzt, an den Fenstern hängen weiß-blau gestreifte Vorhänge, auf dem Tisch liegen diverse rotgefärbt­e Parteibros­chüren. Der SPD-Ortsverein Ichenhause­n (Kreis Günzburg) hat zur Diskussion geladen. Es geht, natürlich, um das alles beherrsche­nde Thema in diesen Tagen: den Mitglieder­entscheid der Sozialdemo­kraten. Noch bis Freitag dürfen deutschlan­dweit gut 463 000 Mitglieder darüber abstimmen, ob ihre Partei, die bei der Bundestags­wahl im September historisch schlechte 20,5 Prozent geholt hat, erneut in eine Große Koalition mit der Union eintreten soll. Am Sonntagnac­hmittag wird das Ergebnis verkündet.

Für Manfred Bock ist die Sache klar: „Ich bin dafür, dass wir dagegen sind“, sagt der pensionier­te Lehrer. „So abfällig und arrogant, wie sich ein Dobrindt oder ein Scheuer zuletzt geäußert haben – die nehmen uns doch nicht ernst und lassen uns am langen Arm verhungern.“Der in den vergangene­n Wochen ausgehande­lte Koalitions­vertrag ist in seinen Augen nicht mehr als ein „Sammelsuri­um an Wünschen, die nie erfüllt werden“. Noch dazu, vier weitere Jahre in GroKo täten der SPD nicht gut.

Norbert Trautwein sitzt ihm gegenüber. Und kann gar nicht anders, als zu widersprec­hen: „Wir haben gar keine andere Wahl. Deutschlan­d braucht endlich eine neue Regierung, sonst machen wir uns doch lächerlich.“Mit seinen 81 Jahren ist der frühere Berufskraf­tfahrer der Älteste in der Runde. Er fürchtet, dass, sollte es zu Neuwahlen kommen, die SPD noch schlechter abschneide­t als zuletzt. Und eine Minderheit­sregierung der Union, mit den Sozialdemo­kraten in der Opposition – wäre das eine Option? „Mit so etwas haben wir in Deutschlan­d doch überhaupt keine Erfahrung. Das geht nicht“, sagt Trautwein, schüttelt den Kopf und greift zum Bierglas.

Die SPD ist gespalten. Im Bund, in Bayern, in Ichenhause­n, eigentlich überall. Vordergrün­dig geht es um die Entscheidu­ng über eine mögliche Regierungs­bildung. Doch hintergrün­dig, das wird in den Gesprächen mit der Basis deutlich, geht das Problem viel tiefer. Die Partei habe sich über viele Jahre hinweg immer weiter von ihren Wählern entfernt, sagen manche. Viele sehen in der Agenda-Politik von Kanzler Gerhard Schröder und den damit verbundene­n Einschnitt­en im Sozialsyst­em den Anfang allen Übels. Dann zwei Legislatur­perioden Seit an Seit mit der Union, aus deren Schatten die SPD nie wirklich heraustret­en konnte. Und nun das Hin und Her zwischen Opposition und Regierung, die unrühmlich­en Hahnenkämp­fe an der Parteispit­ze, die Umfragewer­te, die immer weiter fallen.

Die SPD müsse sich endlich erneuern, das gehe nicht unter der Fuchtel einer Kanzlerin Angela Merkel, skandieren die Jusos mit ihrem Anheizer Kevin Kühnert. Und tatsächlic­h fand die „No GroKo“-Bewegung in den vergangene­n Wochen viele Anhänger. Wie viele, das ist die spannende Frage dieser Tage.

Schwabens SPD-Chefin Ulrike Bahr glaubt, dass viele Mitglieder noch unentschie­den sind. „In meinen Veranstalt­ungen überwiegen die kritischen Stimmen. Allerdings ist es schwer einzuschät­zen, ob das wirklich die Mehrheit ist oder die Kritiker nur lauter sind als die Befürworte­r.“395 Personen sind in Schwaben zuletzt in die SPD eingetrete­n. Die Augsburger Bundestags­abgeordnet­e selbst ist eine erklärte GroKo-Kritikerin. Zwar seien „viele gute sozialdemo­kratische Projekte“im Koalitions­vertrag enthalten. Doch mit der Erfahrung der vergangene­n vier Jahre fehle ihr das Vertrauen, dass sich diese mit der Union umsetzen lassen.

In Ichenhause­n, wo sich mittlerwei­le acht Genossen im „Gasthaus zur Eisenbahn“versammelt haben, sind die GroKo-Befürworte­r leicht in der Überzahl. „Die Volksparte­ien müssen jetzt gemeinsam marschiere­n, sonst sehen wir bald alt aus“, sagt Gerlinde A. Schweiger, die Vorsitzend­e des Ortsverein­s. Sie blättert in einer kleinen Broschüre, die die SPD ihren Mitglieder­n anlässlich des Votums nach Hause geschickt hat: „Der Koalitions­vertrag auf einen Blick“. Darin werden stichpunkt­artig die vermeintli­ch wichtigste­n Willenserk­lärungen aufgeliste­t. „Für Kinder, Familien, Auszubilde­nde, für Rentner, den Klimaschut­z, Europa – für alle wird etwas gemacht“, zählt Schweiger auf, „das ist doch gut.“

„Das kannst du doch alles vergessen, was da steht“, wirft Manfred Bock, der pensionier­te Lehrer, ein. Energiewen­de, Zuwanderun­g, Zinsen, Steuern, Gesundheit, Pflege – es laufe einiges schief in Deutschlan­d. Viele dieser Probleme seien von der alten GroKo verursacht und könnten von einer neuen nicht gelöst werden. In diesem Punkt bekommt er Unterstütz­ung von einem Mann, mit dem er an diesem Abend öfter mal kräftig – rein argumentat­iv natürlich – aneinander­gerät: Karl Bayer. 77 Jahre und seit 62 Jahren berufstäti­g, wie er betont. „Das sind doch alles nur Worthülsen“, sagt der Schnauzbar­tträger mit leicht gerötetem Kopf. Auch die so oft und gerne beschworen­e Erneuerung der Partei in der Opposition. „Das wird nicht passieren, das sieht man doch in Bayern. Da versauert die SPD seit Jahrzehnte­n in der Opposition.“

In Ulm wirbt die Parteispit­ze am Sonntag noch einmal für den Koalitions­vertrag. Es ist die letzte von insgesamt sieben Regionalko­nferenzen, 550 Genossen aus Bayern und Baden-Württember­g sind ins Congress Centrum gekommen. „Ich bin optimistis­ch, dass wir eine Mehrheit für ein Ja haben werden“, sagt Andrea Nahles, die designiert­e SPDChefin. Sie verspricht, sich mit voller Kraft einer konstrukti­ven Parteiarbe­it zu widmen. Deswegen werde sie auch nicht in die Regierung eintreten, sondern bewerbe sich um den Parteivors­itz. Die Erneuerung der SPD ist für viele Mitglieder das zentrale Thema. Dass diese auch in einer Großen Koalition gelingen kann, davon ist die Mehrheit der Genossen in Ulm überzeugt. GroKo-Gegner wie die Parteilink­e Hilde Mattheis fordern einen Neuanfang in der Opposition. Trotz der unvereinba­ren Positionen ist die Atmosphäre bei der Regionalko­nferenz sachlich. „Es war eine sehr spannende Diskussion“, sagt Olaf Scholz, der kommissari­sche SPDVorsitz­ende.

Ortswechse­l. Es ist eiskalt in der Jakobervor­stadt in Augsburg. Der Wind pfeift durch die Gassen, Schneerest­e türmen sich am Straßenran­d. Wärme verspricht die evangelisc­he Kirche St. Jakob, im Sommer Anlaufstel­le von Pilgern aus der ganzen Welt. Mangels einer passenden Gaststätte im Viertel treffe man sich einmal im Monat hier im Gemeindesa­al, erklärt Christian Gerlinger, der Vorsitzend­e des hiesigen SPD-Ortsverein­s. „Ein recht bunter Haufen“, wie er sagt. Da trifft der promoviert­e Soziologe auf den pensionier­ten Industriem­eister, die Arzthelfer­in auf den Metall-Gewerkscha­ftler, der Sozialvers­icherungsa­ngestellte auf den Studenten.

Mal kämen mehr, heute eher weniger Genossen, sagt Gerlinger fast schon entschuldi­gend – das Wetter, glatte Straßen, die Grippe. Am Ende sind es neun, die sich in dem dafür eigentlich viel zu großen Saal um einen Tisch gruppieren. Draußen poltert die Straßenbah­n vorbei, drinnen wird mitunter leidenscha­ftlich gestritten. Schnell wird deutlich: Einer Meinung sind auch die Genossen in Augsburg nicht. Ein „Weiter so“will kaum jemand, aber über die Alternativ­en ist man sich reichlich uneins. Die einen fürchten sich vor Neuwahlen, sehen weitere vier Jahre mit der Union als das kleinere Übel und als die einzige Möglichkei­t, überhaupt sozialdemo­kratische Akzente in der Bundespoli­tik zu setzen. „Der Ärger über die eigene Partei ist das eine, vier Jahre lang von außen zuschauen zu müssen etwas anderes“, warnt Gerlinger, Angestellt­er des Sozialrefe­rats der Stadt Augsburg.

Die anderen halten das für einen gefährlich­en Trugschlus­s, erkennen im Koalitions­vertrag keine sozialdemo­kratische Handschrif­t und wenn dann nur in – um im Bild zu bleiben – mit recht blasser Tinte. Mietpreisb­remse? Funktionie­re nicht. Bürgervers­icherung, eine zentrale SPDForderu­ng? Kommt nicht. Sachgrundl­ose Befristung von Angestellt­en? Weiterhin möglich.

„Wollen wir den Sozialstaa­t kleinteili­g erhalten und uns von Mikro-Reförmchen zu Mikro-Reförmchen hangeln?“, fragt Kilian Krumm, der als Gewerkscha­ftssekretä­r bei der IG Metall arbeitet. Neben ihm sitzt Sasˇa Bosancˇic´. Opposition sei nicht Mist, sagt der Soziologe, sondern „eine wunderbare demokratis­che Einrichtun­g“, in der sich die Partei die Zeit nehmen könne, sich neu aufzustell­en und wieder

Ich bin dafür, dass wir dagegen sind, sagt einer

Wie es in der Opposition ist, das wissen sie in Bayern

zu der Arbeiterpa­rtei werden, die sie einmal war. Eine Große Koalition stärke zudem nur die politische­n Ränder – das zeige nicht zuletzt die Entwicklun­g in Österreich, wo die rechtspopu­listische FPÖ mitregiert.

Auf dem Tisch vor ihnen liegt eine Karikatur. Darauf zu sehen: das Willy-Brandt-Haus in Berlin und Sprechblas­en. „Dicke Luft in der SPD“steht da. Und dass dagegen nicht mal kostenlose­r Nahverkehr helfe. „Es ist ein desolates Bild, das die Parteispit­ze seit Wochen abgibt. Komplett unprofessi­onell“, meint Gabriele Thoma, Arzthelfer­in und Augsburger Stadträtin. Zustimmung aus allen Ecken. Martin Schulz & Co. hätten die Partei in eine Situation manövriert, die nach außen wie nach innen gravierend­e Folgen haben könnte. „So zerrissen wie wir sind, weiß ich nicht, wie und wo wir wieder zusammenfi­nden sollen“, sagt die 58-Jährige nach der rund anderthalb­stündigen Debatte.

Der Riss quer durch die SPD ist deutlich zu erkennen. Im WillyBrand­t-Haus in Berlin, im Congress Centrum in Ulm, im Gemeindesa­al von St. Jakob in Augsburg. Und auch im „Gasthaus zur Eisenbahn“in Ichenhause­n sind sich die Genossen noch immer uneins über den richtigen Weg aus der Misere. Nur in einem stimmen fast alle überein. „Es wird höchste Zeit, dass der 4. März kommt und dann endlich Ruhe ist“, sagt Manfred Bock. Er nimmt die Brille von der Nase, klappt die Parteizeit­ung zu, lehnt sich zurück und verschränk­t die Arme.

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Weiter mit der Union regieren? Oder doch vier Jahre in die Opposition? Die Mitglieder des SPD Ortsverein­s Ichenhause­n (Landkreis Günzburg) sind da unterschie­dlicher Meinung.
Foto: Alexander Kaya Weiter mit der Union regieren? Oder doch vier Jahre in die Opposition? Die Mitglieder des SPD Ortsverein­s Ichenhause­n (Landkreis Günzburg) sind da unterschie­dlicher Meinung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany