Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Demokratie mit Anschnallg­urt

Hintergrun­d Die Kungelei um europäisch­e Spitzenpos­ten gehört der Vergangenh­eit an. Zumindest offiziell. Doch in Wahrheit ist der Machtkampf um die Nachfolge von Jean-Claude Juncker längst voll entbrannt. Mittendrin: zwei Deutsche

- VON DETLEF DREWES UND GREGOR PETER SCHMITZ

Brüssel/Augsburg Als deutscher Hoffnungst­räger ist Martin Schulz Geschichte. Nun könnte dieses Schicksal auch jene Errungensc­haft ereilen, die Kanzlerkan­didat Schulz stets als historisch­e Leistung seiner Zeit im EU-Parlament pries – die Reform, bei den Europawahl­en „Spitzenkan­didaten“aufzustell­en und so den Bürgern die Chance zu geben, selbst über Top-Posten wie den des Kommission­spräsident­en zu entscheide­n.

Beim Gipfeltref­fen Ende voriger Woche haben Kanzlerin Angela Merkel und ihre Amtskolleg­en klargemach­t, dass es solche Spitzenkan­didaten 2019 ja gerne wieder geben könne. Aber ob der Abstimmung­ssieger (oder die Siegerin) dann auch wirklich den wichtigste­n Verwaltung­sposten erhalte, das sollen bitte schön immer noch die Regierungs­chefs unter sich ausmachen. Demokratie mit Anschnallg­urt.

Also können die EU-Parlamenta­rier noch so sehr versuchen, in Sachen Spitzenkan­didatur Fakten zu schaffen. Die Europäisch­e Volksparte­i (EVP), das Sammlungsb­ecken der Christdemo­kraten in den Mitgliedst­aaten, verschickt­e bereits die Einladung für einen Nominierun­gsparteita­g im November in Helsinki. Der Brexit-Chefunterh­ändler Michel Barnier gilt als sicherer Bewerber für die christdemo­kratische Spitzenkan­didatur. Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager wird als Nummer eins der Liberalen favorisier­t und bei den Sozialdemo­kraten spekuliert man, dass Federica Mogherini, bisher EU-Chefdiplom­atin, zum Zug kommen könnte. Gute Chancen werden auch Kommission­svize Frans Timmermans eingeräumt.

Alle Lager im Parlament wollen das Gleiche erreichen: keine Kungelei der Staats- und Regierungs­chefs mehr um den mächtigste­n Job der Gemeinscha­ft. Doch genau die betreiben Merkel und Co. ungerührt. Während sich die Kanzlerin in Berlin gegen den Vorwurf zur Wehr setzen muss, sie habe beim Koalitions­poker allzu großzügig zentrale Ministerie­n den Sozialdemo­kraten überlassen, zeigt sie sich beim Ringen um europäisch­e Top-Positionen – wie den Kommission­spräsident­en oder den künftigen Chef der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) – knallhart. Zumindest eine dieser Positionen möchte sie für Deutschlan­d beanspruch­en, genauer für ihre Union (auch wenn die Postenverg­abe im Koalitions­vertrag nicht geregelt ist).

Dabei gilt Bundesbank-Präsident Jens Weidmann für die Frankfurte­r Euro-Zentrale als Kandidat mit guten Aussichten. Sollte das aber nicht klappen, weil der Widerstand der Südländer im Euroverbun­d gegen einen sparsamen Deutschen an der EZB-Spitze zu stark ausfällt, will die Union als Trostpreis immerhin das mächtige Amt des Kommission­spräsident­en. Wunschkand­idat der Kanzlerin für den Job ist Peter Altmaier. Der bisherige Kanzleramt­sminister und derzeitige Bundesfina­nzminister kennt die Institutio­n bestens, er ist EU-Beamter mit Rückkehrre­cht. Außerdem spricht er mehrere Sprachen fließend – eine wichtige Voraussetz­ung für ein Brüsseler Amt. Viele Sprachen beherrscht zwar auch Bundesvert­eidigungsm­inisterin Ursula von der Leyen. Doch sie gilt derzeit eher als Anwärterin für den Spitzenpos­ten bei der Nato.

Ob Altmaier mit Merkels Starthilfe als Spitzenkan­didat der EVP vermittelb­ar wäre und das Zeug zum Wahlsieger bei der Europawahl hätte, wird in Brüssel zumindest bezweifelt. Um ihn durchzuset­zen, müsste Merkel den Automatism­us zwischen einem Gewinn der EUWahl und der Übernahme des Postens als Kommission­schef aufbrechen, ohne das Parlament zu brüskieren. „Da führt kein Weg hin“, heißt es trotzig aus den Reihen der Abgeordnet­en. Doch sie wissen auch: Bis zur Bildung einer neuen Kommission im zweiten Halbjahr 2019 vergeht noch viel Zeit. Und Deutschlan­ds Einfluss wird stetig größer: Denn die Bundesrepu­blik übernimmt kurz darauf (im zweiten Halbjahr 2020) den halbjährli­ch rotierende­n EU-Vorsitz.

Die Parlamenta­rier setzen auf die öffentlich­e Empörung über eine mögliche Beschneidu­ng der Demokratie durch die Regierungs­chefs (die schon 2014 half, als Merkel nur sehr zögerlich den siegreiche­n Spitzenkan­didaten Jean-Claude Juncker akzeptiert­e). Doch wer sollte einen solchen Aufschrei diesmal anführen? Etwa Martin Schulz, der Geburtshel­fer der Spitzenkan­didatenIde­e? Sehr unwahrsche­inlich, siehe oben.

Kann die Kanzlerin Altmaier in Brüssel durchsetze­n?

 ?? Foto: Imago ?? Hinter den europäisch­en Kulissen wird bereits über die Vergabe der Top Positionen gerungen.
Foto: Imago Hinter den europäisch­en Kulissen wird bereits über die Vergabe der Top Positionen gerungen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany