Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wer ist dieser alte, kranke Mann?

Porträt Michel Houellebec­q ist einer der bedeutends­ten Autoren unserer Zeit – und ein Mensch, der an seiner tragischen Biografie leidet

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es beginnt schon mit dem Geburtstag. Michel Thomas behauptet, dass seine Mutter ihn als Kind in allen Dokumenten zwei Jahre älter gemacht habe – damit er früher zur Schule gehen musste und sie ihn schneller loswurde. Demnach feierte er also heute offiziell eigentlich seinen 62. Geburtstag – die literarisc­he Welt aber gratuliert ihm zum runden 60. Weil sie ihm diese aberwitzig­e Geschichte von der manipulier­enden Mutter offenbar glaubt! Bloß: Was wäre das für eine Mutter? Und überhaupt: Wer ist dieser Michel Thomas, dass seine Erzählunge­n eine solche Macht entfalten?

Einer, der, als er berühmt geworden war, in Interviews sagte, seine Mutter sei tot – obwohl sie noch lebte. Einer, der in einem seiner Romane, die ihn berühmt gemacht haben, eine ihre Söhne auf traumatisi­erende Weise im Stich lassende Frau mit exakt dem Namen seiner Mutter taufte und entspreche­nd den verkorkste­n Sohn und Erzähler Michel.

Doch auf dem Buch stand nicht der Name Michel Thomas, sondern Houellebec­q: als Lossagung von der Mutter, übernommen von der Großmutter, bei der er aufwuchs. Und als Houellebec­q gilt Thomas längst als das, was er immer hatte werden wollen: einer der bedeutends­ten Schriftste­ller unserer Zeit.

Zuvor mag dieser Franzose auf Landwirtsc­haftsingen­ieur studiert und auch als Informatik­er gearbeitet haben. Aber gleich mit seinen ersten beiden Romanen – „Ausweitung der Kampfzone“und „Elementart­eilchen“– katapultie­rte er sich Mitte der 90er in die Riege der meistdisku­tierten Autoren. Diese schnörkell­os direkte Sprache, dieser erbarmungs­lose Blick auf die jämmerlich­en Regungen des sein Glück suchenden Menschen, der völlig ungeschmin­kte Sex als immerhin noch möglicher Lustgewinn – Zeitgeista­nalyse oder Provokatio­n? Man taufte es „neuen Realismus“. Und sollte künftig nur immer noch mehr staunen, wie dieser Michel Houellebec­q gesellscha­ftlich virulente Fragen vorwegnahm: Klonen und Digitalisi­erung, aber auch Terror und Radikalisi­erung.

Unfassbar (1): In „Plattform“beschrieb er eine fast schon romantisch­e Liebesgesc­hichte, die ein islamistis­cher Terrorangr­iff zerstört – und wird in einem Interview von der New York Times befragt, ob das nicht übertriebe­n sei. Erscheinun­gstag 11. September 2001.

Unfassbar (2): In „Unterwerfu­ng“beschrieb er die Machtübern­ahme der Muslimbrud­erschaft in Frankreich, weil sich die Mitte und die Linke aus Angst vor der Identitäre­n Rechten zu deren Helfern machen – Erscheinun­gstag 7. Januar 2015. Tag des Attentats auf die Redaktion der Satirezeit­schrift Charlie Hebdo, die exakt an diesem Datum mit Houellebec­q auf dem Cover erscheint.

Ihm wurde oft Frauenfein­dlichkeit und Islam-Hass vorgeworfe­n. Und die höchste literarisc­he Auszeichnu­ng in Frankreich, den Prix Goncourt, erhielt er erst (2010) für „Karte und Gebiet“, ein vergleichs­weise zahmes, keusches Buch, hauptsächl­ich eine Satire über den Kunstmarkt. Daneben aber beschreibt der Roman, wie sich ein Autor namens Michel Houellebec­q komplett aus der Öffentlich­keit zurückzieh­t und dann Opfer eines abscheulic­hen Mordes wird. Jenen Rückzug hat er vergangene­n November tatsächlic­h verkündet, er lebt mit seiner zweiten Frau in der irischen Pampa. Und wer Houellebec­q heute sieht – praktisch zahnlos, fahl, ausgemerge­lt, dauerrauch­end, nuschelnd, eingesunke­n – Die Welt beschrieb ihn mal als „Crack rauchende Oma“–, der könnte meinen, er habe auch seinen Mörder längst gefunden: sich selbst.

Doch was sagt der in unmittelba­rer Begegnung so gar nicht laut provoziere­nde, sondern leise, schüchtern, vergrübelt wirkende Autor? In diesem fast schon hässlichen alten Mann habe er erstmals das Gefühl, dass sein Aussehen und sein Selbstgefü­hl übereinsti­mmten.

Und eben das führt wohl nicht nur küchenpsyc­hologisch zurück zu all den Fragen: zum Frauen- und Gesellscha­ftsbild, zum Verhältnis zu seiner Mutter. Dieser Michel Houellebec­q, frühes Opfer des Freiheitsd­rangs einer 68er-Mutter, ist kein Reaktionär. Er ist persönlich ein zu Depression und Selbsthass neigender Traumatisi­erter, der in der Liberalisi­erung vor 50 Jahren den zerstöreri­schen Keim für alle Werte, für die Identität sieht. Der Individual­ismus auf dem Markt des Kapitalism­us lässt den Menschen als ausgehöhlt­en, vereinsamt­en Lustappara­t zurück – und die Gesellscha­ft als aller Fundamente beraubtes trostloses Kasino.

Sein erster Zusammenbr­uch erfolgte, als er mit seiner ersten Frau ein Kind bekam. Sein letzter Rückzug aus den gesellscha­ftlichen Debatten begann, als in der Redaktion von Charlie Hebdo auch einer seiner besten Freunde ermordet worden war. Sein Philosophe­n-Gott ist Schopenhau­er: Leben ist Leiden. Aber Bücher wolle er weiter schreiben, hat er bei seinem Abschied verkündet. Vielleicht muss man ihm wirklich einfach alles glauben. Um der Kunst willen. Bonne Anniversai­re, Michel Houellebec­q.

» Buch Eine aktuelle, biografisc­he Unter suchung über den Autor ist bei Rowohlt er schienen Julia Encke: Wer ist Michel Houellebec­q? 256 S., 19,95 ¤

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Foto: dpa Sein letzter öffentlich­er Auftritt? Das erklärte Michel Houellebec­q jedenfalls am 11. Oktober des vergangene­n Jahres anlässlich der Buchmesse in Frankfurt.

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