Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Hat ein Medikament seine Gesundheit ruiniert?

Andre Sommer, 41, kam mit schweren Missbildun­gen zur Welt. Er vermutet dahinter ein Präparat, das seine Mutter während der Schwangers­chaft einnahm. Seit Jahren kämpft er für eine Aufklärung. Immer wieder gab es Rückschläg­e. Jetzt hat er neue Hoffnung

- VON ANDREAS FREI UND KATRIN PRIBYL

Hannes hat sein erstes Tor für den Eishockey-Verein geschossen. Ein großer Moment für den Siebenjähr­igen. Und Nina hatte Geburtstag. Wer vier war und jetzt fünf ist, hat definitiv auch was Großes erlebt. Deshalb hängen so viele Glückwünsc­he und Fotos an der Schnur, die die Sommers quer durch die Stube gezogen haben. Muss spannend sein für Jule, Kind Nummer drei, zarte sieben Monate alt, wenn sie im Laufstall sitzt und über ihr baumelt und raschelt es nur so. Dieser Raum, ach was, das ganze Haus ist voller Kinderlebe­n; Andre Sommer wirkt richtig gerührt, wenn er davon erzählt. Und dann sagt: „Wenn meine Mama wüsste …“

Seine Mama liegt seit 2001 im Wachkoma. Sie weiß nicht, dass ihr Sohn drei Kinder hat. Sie weiß nicht, wie sie entstanden sind. „Wenn meine Mama wüsste“, sagt Sommer also, „dass sie auf natürliche­m Weg gezeugt wurden…“Das war so unsicher, wie etwas nur unsicher sein kann – nach dieser Vorgeschic­hte, nach allem, was über Andre Sommer hereingebr­ochen ist. Das ist ja der Grund, warum sich die Mama Vorwürfe gemacht hat.

Andre Sommer, Grundschul­lehrer aus Pfronten im Ostallgäu, ein sportliche­r Typ mit Jeans und Kapuzenpul­lover, sitzt auf der Eckbank. Vor ihm: sein Laptop, ein Stapel Papier – Zeitungsbe­richte, Studien, sein Indizienka­talog, wenn man so will. Ehefrau Sandra ist gerade mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren, so hat er Zeit, seine Geschichte zu erzählen.

Sommer kam vor 41 Jahren mit massiven Fehlbildun­gen zur Welt. Seine Blase lag außerhalb des Körpers, die Genitalien waren deformiert. Die ersten vier Lebensjahr­e verbrachte er zur Hälfte in Krankenhäu­sern. Bis heute musste er sich 15 großen Operatione­n unterziehe­n. Narkose, Schmerzen, Heilung, wieder Narkose – ein quälender Kreislauf. Er lebt mit einem künstliche­n Blasenausg­ang. Der Beutel, der seinen Urin auffängt, ist so flach, unter seinem Pullover ist er nicht mal zu erahnen. Mehrfach hat unsere Zeitung über seinen Fall berichtet.

Wie geht es Ihnen heute?

Gut. Aber ich merke, dass der Körper verschleiß­t. Und niemand weiß, wie lange die Nieren mitmachen. Macht Ihnen das Angst?

Ich verdränge es.

Gab es kritische Zeiten?

2013 hatte ich fast einen Darmversch­luss. Das war eine schwierige Zeit. Da ging es mir schlecht. Natürlich war da immer die Frage: Warum ich? Zufall, Schicksal, eine Laune der Natur? So etwas trifft einen von 50 000 Menschen. Also doch Schicksal?

2009 reichte ihm das nicht mehr als Erklärung. Andre Sommer begann nachzufors­chen. Er studierte seine Krankenakt­e, durchkämmt­e das Internet, fand Menschen mit ähnlichen Erfahrunge­n. Aber was heißt ähnlich: Manche waren mit einem offenen Rücken zur Welt gekommen, manche mit deformiert­en Gliedmaßen oder schweren Herzfehler­n, einige sind daran gestorben. Und dann gab es Leute wie Andre Sommer. Eine Gemeinsamk­eit aber hatten alle: Ihre Mütter hatten während der Schwangers­chaft das Medikament Duogynon eingenomme­n – oder Primodos, wie es in Großbritan­nien hieß. Auch Sommers Mama.

Das Hormonpräp­arat Duogynon war in Europa weitverbre­itet, unter anderem, um Schwangers­chaften festzustel­len. Anbieter war die Firma Schering, die 2006 im BayerKonze­rn aufging. In Deutschlan­d wurde Duogynon Anfang der 1980er Jahre vom Markt genommen. Zu dem Zeitpunkt gab es längst kritische Hinweise aus dem Ausland, wonach ein Zusammenha­ng bestehen könnte zwischen der Einnahme des Medikament­s und Fehlbildun­gen bei Säuglingen. In Berlin ermittelte die Justiz. Doch das Verfahren wurde eingestell­t.

All das musste sich Andre Sommer erst anlesen, als er mit seinen Nachforsch­ungen begann. Trotzdem nahm er den Kampf gegen Bayer auf. Gemeinsam mit seinem Anwalt Jörg Heynemann zog er zweimal vor Gericht. Beide Male verlor er – wegen Verjährung. Zur Schuldfrag­e kam es erst gar nicht.

Doch er gab nicht auf. Leidensgen­ossen machten ihm Mut. Heute sind rund 600 von ihnen in einem Netzwerk organisier­t, das Sommer koordinier­t. Insgesamt sollen in Deutschlan­d etwa 1000 Menschen betroffen sein. Immer wieder keimte Hoffnung auf, dass es eine Erklärung gibt. Wenn Reporter Zeugen ausfindig machten, die in Zusammenha­ng mit möglichen Risiken von Duogynon Absprachen zwischen einem Schering-Mitarbeite­r und dem damaligen Bundesgesu­ndheitsamt offenbarte­n. Oder im Berliner Landesarch­iv Akten auftauchte­n, die diesen Vorwurf erhärteten und nahelegten, dass der Konzern schon in den 60er Jahren von den Risiken des Präparats wusste.

Jedes Mal aber folgte eine Enttäuschu­ng. Die neuen Indizien hatten keine Konsequenz­en, es war ja alles verjährt. Und Bayer als Rechtsnach­folger von Schering argumentie­rte: Es habe Untersuchu­ngen in den 70er und 80er Jahren gegeben, die keine Hinweise auf einen ursächlich­en Zusammenha­ng zwischen der Einnahme von Duogynon und Fehlbildun­gen ergeben hätten. Dies hätten Gerichtsve­rfahren bestätigt, hieß es auf Anfrage unserer Zeitung.

Andre Sommer wühlt das Gespräch auf. Statt weiterzuer­zählen, schluckt er. Und noch einmal.

Zermürbt Sie dieser Kampf nicht? Ich war nahe dran, dass ich sage: Es geht nicht mehr weiter. Warum haben Sie weitergema­cht? Es haben mir so viele Menschen geschriebe­n, denen es noch schlechter geht, die keinen Job haben, keinen

Freundeskr­eis. Ich habe Arbeit. Und ich habe eine Frau und drei Kinder. Was treibt Sie an?

Erst wollte ich nur Aufklärung. Heute geht es auch um die Anerkennun­g von Schuld. Ja, ich will eine Entschuldi­gung. Und ich will für mich und alle Betroffene­n eine Entschädig­ung.

Nun macht er sich Hoffnung. Wieder einmal. „Sie hat eine neue Qualität“, sagt Sommer. Und einen Namen: Marie Lyon. Die 71-Jährige arbeitet mehr denn je, seit sie in Rente ist. Als Vorsitzend­e einer britischen Vereinigun­g von PrimodosOp­fern kämpft sie seit Jahren für Gerechtigk­eit, wie sie sagt. „Wir müssen endlich ein Schuldeing­eständnis bekommen.“

Marie Lyon kennt Andre Sommer gut. Er hat sie auf das Landesarch­iv in Berlin aufmerksam gemacht. Mit einem Team des Senders Sky News, der eine aufsehener­regende Dokumentat­ion über die Vorgänge drehte, durchforst­ete sie 2016 rund 7000 Dokumente – Seite für Seite, Wort für Wort. „Sie zeigen eine Absprache zwischen der damaligen deutschen Regierung, den britischen Behörden und Schering“, sagt Lyon. Die deutschen Behörden seien sich der Wirkung des Medikament­s auf schwangere Frauen bewusst gewesen. Ein Durchbruch für die Opfergrupp­e? In England gelten schließlic­h andere Verjährung­sfristen.

Lyon und ihre Mitstreite­r wandten sich mit den neuen Informatio­nen ans britische Parlament. Gleichzeit­ig kam ein von der Regierung in London eingesetzt­es Expertengr­emium aus Medizinern, Gesundheit­spolitiker­n und Biologen Ende 2017 zu dem Ergebnis, dass das Präparat nicht verantwort­lich für die Fehlbildun­gen sei. „Wir bestreiten das“, sagt Lyon – eine von rund 1,5 Millionen Frauen, die in Großbritan­nien Primodos verschrieb­en bekommen haben. „Der Bericht ist eine einzige Vertuschun­g und hat wichtige Beweise ignoriert.“

Seit Monaten fährt sie teilweise mehrmals pro Woche aus ihrer nordenglis­chen Heimatstad­t Wigan in die Metropole, besucht einen Abgeordnet­en nach dem anderen, erzählt ihre Geschichte und die von all den anderen Kindern, die mit Fehlbildun­gen geboren wurden. Lyon sagt, sie habe Glück gehabt – obwohl sie vor fast 50 Jahren auf Rat ihres Arztes zwei Pillen Primodos einnahm, um ihre Schwangers­chaft festzustel­len. Tochter Sarah, heute 48, kam mit einem missgebild­eten Arm zur Welt, sei aber immer eine „Kämpferin“gewesen. Sie fährt Auto und geht gerne reiten. „Aber so viele Menschen haben nie das Leben geführt, das sie hätten führen sollen.“Für sie kämpft Marie Lyon, bis zu zwölf Stunden am Tag.

Mittlerwei­le wird die Opfergrupp­e von fast 130 Abgeordnet­en unterstütz­t. Der Druck zeigt Wirkung. Im Februar ordnete Premiermin­isterin Theresa May eine Überprüfun­g der Vorgänge im „PrimodosSk­andal“an. Der Report von 2017 wurde zurückgezo­gen. Während einer Fragestund­e im Parlament sagte May, sie sei betroffen von den „schlagkräf­tigen Geschichte­n“der Aktivisten, die „ein Problem mit unserem Behörden- und Gesundheit­ssystem“aufzeigen. „Bei mir herrscht große Erleichter­ung“, sagt Lyon. Nun will sie vor allem erreichen, dass für die Überprüfun­g des Berichts unabhängig­e Experten eingesetzt werden. Bis heute findet sie es „seltsam“, dass die deutsche Politik keine aktivere Rolle spielt.

Hoffnung macht den Aktivisten eine kürzlich veröffentl­ichte Studie aus Schottland, die ebenfalls Zweifel an dem Report streut. Dieser hatte noch betont, dass „die begutachte­ten wissenscha­ftlichen Daten nicht auf einen kausalen Zusammenha­ng zwischen der Verwendung von Primodos und Geburtsfeh­lern“hinweise. Professor Neil Vargesson von der Universitä­t Aberdeen kommt dagegen zu dem Schluss, dass hormonelle Schwangers­chaftstest­s eben doch zu Fehlbildun­gen bei Embryos führen können. Er und sein Team testeten den Duogynon/Primodos-Wirkstoff bei Zebrafisch-Embryonen auf seine fruchtschä­digende Wirkung. Tatsächlic­h litten die Embryonen unter einer ganzen Reihe von Deformatio­nen – verkürzten Fischschwä­nzen und Flossen sowie Sehdefekte­n. Um letztendli­che Aussagen treffen zu können, gerade was die Übertragun­g der Ergebnisse auf Menschen betrifft, seien aber noch weitere Untersuchu­ngen nötig, sagt Vargesson.

Was heißt das nun für Andre Sommer und die anderen Deutschen, die sich als Opfer von Duogynon sehen? Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium hat im April 2017 Sommers Anwalt Heynemann geschriebe­n, die Bundesregi­erung werde „den Abschlussb­ericht der Expertenko­mmission in Großbritan­nien, sobald er vorliegt, einer Bewertung unterziehe­n“. Darauf wartet Sommer nun. Er hat Kontakt zu Politikern im Bundestag aufgenomme­n, die im Gesundheit­sausschuss Druck erzeugen sollen. Zwei Petitionen stehen aus. Und es gebe die Möglichkei­t einer Amtshaftun­gsklage. „Schließlic­h hat das damalige Bundesgesu­ndheitsamt versagt.“

Ein Bayer-Sprecher teilt gestern auf Anfrage unserer Zeitung schriftlic­h mit, man schließe Duogynon nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildun­gen aus. Er verweist auf die Studien der 70er und 80er Jahre und sagt: „Es sind keine neuen wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se bekannt, die die Gültigkeit der damaligen Bewertung infrage stellen würden.“Was die Entwicklun­g in Großbritan­nien betrifft, bezieht der Sprecher nur Stellung zum Report des Expertengr­emiums. Dieses habe „keinen kausalen Zusammenha­ng“zwischen der Verwendung hormonelle­r Schwangers­chaftstest­s und Missbildun­gen feststelle­n können. Auf die Frage, ob Bayer das Gespräch mit deutschen Patienten suche, geht der Sprecher nicht ein.

Sommers Traum ist eine Stiftung, ein Geldtopf, aus dem Betroffene eine Entschädig­ung erhalten. So, wie dies für Contergan-Geschädigt­e geregelt wurde. Dafür kämpft er.

Wie lange kämpfen Sie weiter? Solange ich die Unterstütz­ung meiner Familie habe.

Und wann ist der Punkt erreicht, dass es nicht mehr geht?

Wenn ich sehe, dass die Familie kaputt geht. Dass die Sache uns auffrisst. So weit ist es noch nicht.

Dieses Schicksal trifft einen von 50 000 Menschen

Er macht weiter – solange die Familie mitmacht

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Foto: Ralf Lienert Und vor ihm auf dem Tisch liegt ein Baby Schnuller: Andre Sommer aus Pfronten im Ostallgäu ist stolzer Familienva­ter – was bei seiner Vorgeschic­hte fast schon ein kleines Wunder ist.

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