Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Eine Oase für schizophrene Patienten
Psychiatrie „Soteria“ist eine alternative Behandlungseinrichtung. Wie arbeitet man dort und wem kann sie helfen? Ein Besuch an einem bayerischen Standort
München Die hölzerne Tür der Jugendstilvilla lässt sich problemlos öffnen. Drinnen riecht es ein bisschen nach Rauch, Kaffee und Putzmittel. Einen Pförtner gibt es nicht in diesem Haus, in dem schizophrene Patienten leben. In einem der unteren Zimmer wischt eine junge Frau den Fußboden, ein Mann grüßt lächelnd, interessiert sich aber nicht weiter für den Besuch. Im oberen Stockwerk wartet Roswitha Hurtz, Oberärztin in der Soteria, in ihrem Büro. Kein Vorzimmer, keine Sekretärin, bei der man sich anmelden müsste. Schon dieser Eindruck macht deutlich: Hier in diesem Haus geht es zwanglos zu.
Das Wort „Soteria“kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Rettung“oder „Bewahrung“. Darunter versteht man eine alternative Schizophrenie-Behandlung: Junge Menschen in psychotischen Krisen leben in einer Wohngemeinschaft zusammen. Seit fast 15 Jahren gibt es eine Soteria in Haar, auf dem Gelände des kbo-Isar-Amper-Klinikums München-Ost. Eine Besonderheit ist vor allem der „milieutherapeutische Alltag“, erklärt Hurtz. Die Patienten leben wie eine Familie zusammen und teilen sich alle Aufgaben – angefangen vom Einkaufen über das Kochen bis hin zum Müll-Dienst. „Unsere Idee ist: Auch in psychotischen Krisen kann es helfen, etwas ganz Normales zu machen. Dadurch wird der Bezug zur Realität bestätigt“, sagt die Psychiaterin. „Man knüpft an seine Ressourcen an. Das gibt Sicherheit und Halt.“In akuten Phasen der Krankheit, die meist von Wahnvorstellungen und Halluzinationen geprägt sind, bietet die Soteria den Patienten eine „Eins-zu-eins-Begleitung“an. Das heißt, dass ihnen bei Bedarf rund um die Uhr ein Betreuer zur Seite steht. In dieser Zeit kann sich der Patient in das „weiche Zimmer“zurückziehen: ein in Pastellfarben gehaltener Ruheraum, in dem er von allen Reizen abgeschirmt ist. Diese Tür bleibt für Besucher heute allerdings geschlossen: Ein Mann durchlebt dort gerade eine akute Phase.
Der Therapieansatz eignet sich nicht für jeden Patienten, der an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis erkrankt ist. Wer etwa an einer Sucht leidet, eine stark ausgeprägte Persönlichkeitsstörung hat oder zu Gewalttätigkeit neigt, kann nicht aufgenommen werden. „Außerdem ist Voraussetzung, dass der Patient bereit ist, sich auf die milieutherapeutische Arbeit hier einzulassen“, sagt die Ärztin.
Und wie sehen externe Fachleute das Konzept? „Von der Grundidee her ist dieser Ansatz gut“, sagt Peter Falkai, Schizophrenie-Experte an der Uni München. Vor allem in einer frühen Phase der Krankheit sei die Reizreduktion, wie sie in der Soteria geboten werde, sinnvoll. „Allerdings braucht man viel Personal, und zwar gut geschultes Personal.“Auch merkt er an: „Es gibt nur wenige Studien zu diesem Konzept.“
In dem großen Haus in Haar gibt es zwei Wohneinheiten mit je neun stationären und zwei tagesklinischen Behandlungsplätzen. In der Regel teilen sich zwei Patienten ein Zimmer. Wer durch die breiten Gänge geht, fühlt sich an eine StudentenWG erinnert. Normalerweise bleiben die Patienten mehrere Wochen bis Monate, bevor sie nach Hause kommen. Dann sollen sie schrittweise ihr altes Leben wiederaufnehmen. Auch bei Eva (Namen der Patientin geändert), einer lebhaft wirkenden Altenpflegerin, steht die Entlassung bald bevor. „Ich kehre dann in meinen Job zurück.“Als sie in die Soteria kam, war sie so rastlos, dass sie nicht einmal lesen konnte. „Die feste Tagesstruktur zieht einen aber mit. Inzwischen bin ich viel ruhiger geworden.“Dabei geholfen haben ihr eine Arbeitstherapie und Spaziergänge. Auch Martin, ein junger Mann mit dunkler Brille und schwarzem Hut, fühlt sich in der Gruppe wohl. „Ich war in einer Lebenskrise, als ich hier herkam. Viele Freunde waren gestorben, einen davon habe ich tot vorgefunden.“Er spricht leise und wählt jedes seiner Worte mit Bedacht. „Ich schätze es, dass den Patienten hier viel Toleranz entgegengebracht wird.“
So geht es nicht darum, den Patienten von sämtlichen Wahnvorstellungen zu „kurieren“. Ein Wahn kann aber auch beängstigend sein und einen Menschen in die Isolation treiben. Oberärztin Hurtz sagt: „Wir besprechen daher mit den Patienten: Welches Medikament würde sich in seiner Situation eignen?“Gute Beziehungen und ein respektvoller Umgang aller Beteiligten miteinander gehören zum Therapiekonzept.
Zu Zeiten des Gründervaters Mosher um 1970, in denen Psychiatrie-Patienten wenig Mitspracherechte hatten und oft mit hohen Medikamentendosen behandelt wurden, waren solche Grundsätze fast revolutionär. In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings auch die Psychiatrie generell sehr verändert.