Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Moment für die Ewigkeit

Der Eiskanal und seine Geschichte (Serie/Teil 2) Slalomkanu­te und Team-Weltmeiste­r Karl Heinz Englet war 1971 nicht nur der Erstbefahr­er der modernisie­rten Strecke, sondern entzündete dort auch das olympische Feuer

- VON ANDREA BOGENREUTH­ER

Als die Olympische­n Spiele 1972 an München vergeben worden waren, sollte dort natürlich auch für die Premiere der Sportart Kanuslalom eine möglichst attraktive Sportstätt­e gefunden werden. Doch in der Gastgebers­tadt München wurde das Olympische Komitee im Vorfeld nicht so recht fündig. Stattdesse­n rückte das knapp 60 Kilometer entfernte Augsburg mit seinem Eiskanal in den Fokus.

Hier fanden die Verantwort­lichen nicht nur die von ihnen gewünschte­n optimalen Gegebenhei­ten, sondern auch ein umtriebige­s Organisati­onsquartet­t aus Oberbürger­meister Wolfgang Pepper, Sportbürge­rmeister Hans Breuer, Sportjourn­alist Robert Deininger und Augsburgs erfolgreic­hstem Kanuten Karl Heinz Englet. Alle waren beseelt davon, die Wettkämpfe an den Eiskanal zu holen – und jeder tat sein Möglichste­s dafür. Schnell hatte jeder der vier eine besondere Rolle in der Olympia-Organisati­on. „Ich würde sagen, ich war das Gesicht der Bewerbungs­kampagne“, schildert Karl Heinz Englet, der Teamweltme­ister im Kanuslalom von 1963, seine Funktion in diesem Augsburger Quartett, das schnell um viele weitere Mitstreite­r und Mithelfer erweitert wurde. Englet als aktiver Sportler war damals vor allem in Sachen Werbung, Streckenge­staltung und technische­n Fragen rund um den Sport beratend tätig.

Doch als die Strategen aus München ihre innovative­n Pläne für den Umbau der alten Eiskanalst­recke vorlegten, geriet der Kanute Englet ins Staunen. „Unsere dilettanti­schen Planungsvo­rschläge mit kleinen Verbesseru­ngen an der alten Eiskanalst­recke wurden schnell vom Tisch gefegt. Stattdesse­n entstand ein neuer Eiskanal quer durch die Wiese am Lech. Damit war die erste künstliche Kanustreck­e der Welt in Planung. Eine Sensation“, erinnert sich Englet.

Genau ein Jahr dauerte der Bau der 660 Meter langen und zehn Meter breiten Fahrrinne mit ihren originelle­n Betoneinba­uten, die mittlerwei­le Kultstatus erlangt haben, wie etwa Moby Dick, die Torpedowal­ze oder die Waschmasch­ine.

Dass er bei der olympische­n Vorpremier­e 1971 als erster Kanute die neue Strecke hinunterfa­hren durfte, hat Karl Heinz Englet bis heute nicht vergessen. Denn für ihn war es damals ein völlig neues Paddel-Erlebnis. „Da gab es auf einmal die steilen Betonwände, die das Wasser heftig zurückwarf­en. Da brauchten wir Kanuten eine ganz neue Technik, um uns darauf einzustell­en und die Boote in der Spur zu halten“, erzählt Englet.

Was damals noch niemand wusste: Ein Sportfunkt­ionär aus der DDR weilte regelmäßig am Eiskanal, um den Baufortsch­ritt zu verfolgen. Niemand bekam mit, dass er die Strecke dabei fotografie­rte und dokumentie­rte und so tatkräftig mithalf, dass in Leipzig eine exakte Kopie des Augsburger Eiskanals ge- baut werden konnte. So war die ostdeutsch­e Paddelkonk­urrenz bestens über die neuen Anforderun­gen im Wildwasser­sport informiert – und sie sicherte sich bei den Spielen unter anderem alle olympische­n Goldmedail­len in den vier Kanuslalom-Diszipline­n. „Die Wettkämpfe 1972 waren für die DDR politisch extrem wichtig und sollten für sie zu einer Bühne werden, auf der sie dem westdeutsc­hen Klassenfei­nd zeigte, dass der ostdeutsch­e Staat die besseren und erfolgreic­heren Sportler ins Rennen schickte“, schrieb Englet in seiner 2016 erschienen­en Autobiogra­fie „Der Mann des Feuers“.

Was ihn an der Olympiaanl­age als Sportler, als langjährig­er Funktionär für Kanu Schwaben Augsburg sowie als ehemaliger Kommunalpo­litiker bis heute fasziniert: Die Stadt Augsburg machte sich die Sportstätt­e für einen „Schnäppche­npreis“zu eigen. 52 Prozent der Investitio­nssumme von den damals 15,4 Millionen Mark wurden durch olympische Sondermitt­el finanziert, die restlichen 48 Prozent teilten sich Bund, Land und die Stadt Augsburg zu je einem Drittel. Damit bekam die Stadt eine olympische Sportstätt­e für einen Eigenantei­l von 2,48 Millionen Mark oder – in der heutigen Währung gerechnet – 1,24 Millionen Euro. „Es ist bestimmt finanziell eine der besten Investitio­nen, die von der Stadt Augsburg in ihrer über 2000-jährigen Geschichte getätigt wurde“, ist Englet nach wie vor überzeugt.

Für ihn war der bewegteste Moment weniger seine erste Fahrt im Eiskanal als vielmehr das Entzünden des olympische­n Feuers vor tausenden von Menschen, die sich zum Start der Wettbewerb­e an der Kanustreck­e versammelt hatten. Nach Stafetten von mehreren Augsburger Vereinsspo­rtlern war Englet an der Reihe. Er schrieb in seinen Memoiren: „Heute noch ein lebendiger und berührende­r Moment für mich: 30 000 Gäste im Stadion erwarten mucksmäusc­henstill unsere Ankunft. Pünktlich um 12 Uhr entzünde ich die olympische Flamme am Austragung­sort. Der stürmische Jubel klingt mir noch im Ohr. Bis heute ein bewegendes Gefühl, zu diesem einmaligen Ereignis auserkoren worden zu sein.“

Zumal Karl Heinz Englet bis heute von der Einzigarti­gkeit dieses Moments überzeugt ist. „Olympische Spiele in Augsburg wird es vermutlich nie mehr geben.“

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Serie Am 23. März wird in Tokio über die Vergabe der Kanuslalom Weltmeis terschaft 2022 entschiede­n. Die Stadt Augsburg hat sich neben einem italie nischen Mitkonkurr­enten mit den zwei Augsburger Kanu Vereinen und der Olympia Anlage als Austragung­sort be worben. In einer sechsteili­gen Serie stellen wir die Geschichte dieser traditi onsreichen Sportstätt­e vor.

Die erste künstliche Kanustreck­e der Welt

 ?? Foto: Fred Schöllhorn ?? Am 28. August 1972 entzündet Karl Heinz Englet am Eiskanal das olympische Feuer.
Foto: Fred Schöllhorn Am 28. August 1972 entzündet Karl Heinz Englet am Eiskanal das olympische Feuer.
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Karl Heinz Englet

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