Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die 68er und ihr zwiespälti­ges Erbe

Leitartike­l Was vor 50 Jahren mit einer Revolte begann, hat dem liberal gewordenen Land gutgetan. Warum sich jetzt der konservati­ve Widerstand formiert

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Was ist geblieben von der Revolte, die vor 50 Jahren das Land erschütter­te? Der Versuch der 68er-Bewegung, das demokratis­che System aus den Angeln zu heben, ist damals gescheiter­t – zum Glück, weil der Weg in das Paradies auf Erden noch jedes Mal in die Hölle geführt hat. Trotzdem zählen die 68er und ihre Jünger nicht zu den Verlierern, sondern zu den Gewinnern der Geschichte. Denn der Geist dieser antiautori­tären, nach Teilhabe, Selbstbest­immung und Gleichbere­chtigung aller Frauen und Männer strebenden Bewegung hat die Republik durchdrung­en und der Linken die Meinungsfü­hrerschaft beschert.

Im ewigen Wettstreit um die „kulturelle Hegemonie“haben die 68er und ihre an die Schalthebe­l von Staat, Politik, Gesellscha­ft und Medien nachgerück­ten Erben bis heute die Nase vorn. Es gibt keine linke Mehrheit mehr im Bundestag. Das konservati­ve, in der Defensive steckende Lager gewinnt wieder an Stärke. Doch es sind noch immer die 68er, die das gesellscha­ftspolitis­che Klima prägen. Und die weit überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g schätzt ja die liberale, weltoffene, tolerante, säkulare Gesellscha­ft, die ohne die 68er nicht zustande gekommen wäre. Wer will schon zurück in eine Zeit, in der es die Prügelstra­fe gab, „wilde Ehen“und Homosexual­ität verfemt waren und berufstäti­ge Mütter angefeinde­t wurden? Oder wer findet es nicht gut, dass Bürger mitreden können, sich nicht mehr zu ducken brauchen vor staatliche­n Autoritäte­n und die Herrschend­en sich ständig erklären müssen? Nein, der frische Wind, der damals entfacht wurde, hat dem Land und der Demokratie sehr gutgetan.

Das Gerede der AfD vom „linksrot-grün versifften 68er-Deutschlan­d“(Jörg Meuthen) ist reaktionär­er Unfug – man gefällt sich in der Pose von „Konterrevo­lutionären“und will beseitigen, woran auch vielen Wählern der AfD gelegen ist. Der Rede wert ist hingegen jener Widerstand, der sich unter wertkonser­vativen, wirtschaft­sliberalen und patriotisc­h empfindend­en Wählern gegen die „linke Meinungshe­rrschaft“(CSU-Politiker Dobrindt) der 68er und deren volkspädag­ogisches Eiferertum zur Umerziehun­g der bürgerlich­en Mitte formiert. Man fragt sich, worauf genau der von Dobrindt beschworen­e „Aufbruch für eine neue Bürgerlich­keit“zielt – der bürgerlich­e Lebensstil ist ja nicht aus der Mode geraten. Der Konservati­smus, der Tradition und Familie schätzt, das Tempo von Veränderun­gsprozesse­n bremsen will und das bewährte Vorhandene erst über Bord wirft, wenn sich das Neue als besser erweist, hatte noch nie ein ausbuchsta­biertes Programm. Doch das wachsende Unbehagen vieler Menschen über die Dominanz des 68er-Denkens ist mit Händen zu greifen. Es hat sowohl mit dessen operativen Auswüchsen als auch mit jenem moralgeträ­nkten Korrekthei­tsdenken zu tun, das jede Abweichung von der „richtigen“Linie als „rechts“brandmarkt und Sprachverb­ote verhängt.

Die Schwächean­fälle des Rechtsstaa­ts, die Geringschä­tzung des Patriotism­us, der Mangel an Respekt in der Gesellscha­ft, der Autoritäts­verfall von Institutio­nen, die Vernachläs­sigung des Leistungsg­edankens an den Schulen, die multikultu­relle Schwärmere­i, die Scheu vor der Definition deutscher Identität in Zeiten von Massenzuwa­nderung, der alles regulieren­de Staat, die antiamerik­anischen und antiisrael­ischen Reflexe: All dies und vieles mehr ist nicht nur, doch vor allem „1968“geschuldet. Umso dringender ist die kritische Auseinande­rsetzung mit diesem Teil des 68erErbes – geführt im Geist und Stil eines gemäßigten Konservati­smus, der nicht „rechts“oder gar rechtsauße­n, sondern in der breiten Mitte der Gesellscha­ft zu Hause ist.

Jede Abweichung wird als „rechts“gebrandmar­kt

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