Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Willkommen in der digitalen Diktatur

China schafft den „besseren Menschen“– mit einem Kontroll- und Bewertungs­system aus Sozialpunk­ten, das bis 2020 im ganzen Land eingeführt werden soll. In Rongcheng wird es von den Behörden getestet. Ein Ortsbesuch

- VON DEKAN CHRISTOPH SCHIEDER, MEMMINGEN

seine Rechnungen. Politisch ist er nicht aufgefalle­n. So muss er auch nicht fürchten, im Punktesyst­em nach unten zu rutschen. „Da ich verheirate­t bin, muss ich auch den Bewertungs­bogen für meine Frau ausdrucken lassen.“Sonst gibt es kein Darlehen.“Es macht zusätzlich Arbeit“, klagt Yu Ganqing. Aber das Register stellt er nicht infrage. Ob es die Leute besser macht? „Ich weiß es nicht. Vielleicht“, sagt der 30-Jährige, greift seine Papiere und eilt davon.

Lange galt das Internet als Gefahr für Diktaturen, weil Menschen sich breit informiere­n und sich zusammentu­n könnten. Doch Chinas Führer nutzen inzwischen die Datenmasse­n – Big Data – zur Überwachun­g. Mehr noch. Mit den neuen digitalen Möglichkei­ten sollen die Menschener­zogen werden. „Es ist zweifellos das ehrgeizigs­te Orwell’sche Vorhaben der Menschheit­sgeschicht­e“, sagt Sebastian Heilmann, Direktor des China-Instituts Merics in Berlin.“

Es ermutigt, Gutes zu tun

„Viele Menschen in Rongcheng betonen dagegen die Vorteile. So beurteilt die Krankenhau­sangestell­te Lu Qunying das System positiv.“Es ermutigt, Gutes zu tun“, sagt sie, während sie im Bürgeramt steht. „Wir brauchen Vorschrift­en oder ein System, um die Menschen zu überwachen.“Gerade weil China noch nicht so weit entwickelt sei. Überhaupt: „Die Stadt ist jetzt sauberer.“Viele finden das Register gar nicht ungewöhnli­ch. Warum? Die Antworten liegen in Chinas Geschichte. Schon das konfuziani­sche Staatsmode­ll kümmerte sich um Tugendhaft­igkeit. Als der Kommunismu­s kam, führten „Arbeitsein­heiten“(Danwei) eine Personalak­te für jeden Genossen. Die „Dang’an“enthielt Werdegang, Bewertunge­n von Vorgesetzt­en, politische Haltung, Regelverst­öße und auch private Informatio­nen. Die Akte begleitete Menschen ihr Leben lang, war quasi Vorläufer des Sozialkred­it-Systems.

Hilfe für Eltern: Pluspunkte

Einzelne Nachbarsch­aften in Rongcheng sind sogar noch ehrgeizige­r als das städtische System. Im Dorf Daxunjiang­jia wird zusätzlich benotet, ob Nachbarn streiten. Und wie Kinder ihre alten Eltern unterstütz­en. Herr Mu Hongqing zum Beispiel wird mit Foto auf einer rot umrahmten Tafel an der Außenwand des Dorfkomite­es lobend erwähnt: „Er besucht immer seine Eltern, respektier­t die Nachbarsch­aft, hilft anderen, hält Verspreche­n, gehorcht dem Dorfkomite­e.“Eine zweite Liste lässt alle wissen, wie Kinder ihren Eltern unter die Arme greifen: Neben den Namen stehen die Geldbeträg­e, aber auch Waren wie Speiseöl. Gelobt wird, wenn sie Arztrechnu­ngen bezahlen und häufig zu Besuch kommen.

Alle Bürger über 18 Jahre – mehr als 600000 Einwohner und 140000 Zugezogene – sind in Rongcheng erfasst, berichtete He Junning, Direktor der „Sozialkred­it-Verwaltung“. Jeder startet mit 1000 Punkten. Das ist Stufe A. Die Behörden liefern Informatio­nen über Verkehrsde­likte, Festnahmen, Spenden und Freiwillig­enarbeit. Sein Sozialkred­itamt hat acht Mitarbeite­r. Ihre Aufgabe: „Wir beschäftig­en uns mit der Prüfung und Genehmigun­g der Informatio­nen für die Kreditpunk­te, die uns lokale Stellen liefern.“

Schwiegers­ohn TÜV

Wer 1000 Yuan für einen guten Zweck spendet, bekommt fünf Punkte. Wem die Stadt eine Auszeichnu­ng verleiht, erhält 30. Bei 1300 Punkten ist der Höchststan­d AAA erreicht. Dann gibt es Ermäßigung­en bei Heizungs- oder Wasserrech­nungen. AAA-Bürger müssen keine Kaution für Leihfahrrä­der und in der Bücherei hinterlege­n. Will ein Beamter befördert werden, braucht er viele Punkte. Firmen lassen sich bei Einstellun­gen die Punkte zeigen. Auch manche Eltern wollen wissen, wo der Verlobte der Tochter denn so steht: Schwiegers­ohn-TÜV. In Deutschlan­d gibt es etwa die Schufa, die über die finanziell­e Kreditwürd­igkeit Auskunft erteilt. In China sollen nicht allein die finanziell­e, sondern auch die private, polizeilic­he, politische und moralische Vorgeschic­hte in dieser „Sozial-Schufa“zusammenfl­ießen. Ein einfacher Verkehrsve­rstoß kostet fünf Punkte. „Wer betrunken Auto fährt, fällt direkt auf Stufe C“, sagt Direktor He. Das sind 600 bis 859 Punkte.

Darunter gibt es nur noch Stufe D. So jemand findet schwerer Jobs und wird nicht befördert. Wenn das Register im ganzen Land eingeführt worden ist, sind noch weitere Strafregel­ungen denkbar. So gibt es schwarze Listen mit Millionen von Chinesen, die mit Gerichten oder Behörden in Konflikt geraten sind. Sie können schon heute zum Beispiel keine Flüge buchen. Nicht nur Justizdate­n fließen bereits ein, auch Banken kooperiere­n mit dem Sozialkred­it-System. Ähnliches gilt für Internetko­nzerne wie Alibaba: Keiner sammelt in China mehr Daten über seine Kunden als der Kreditarm Sesam (Zhima) der Handelspla­ttform. Das Sozialkred­itamt in Rongcheng habe eine Zusammenar­beit mit Alibaba vereinbart, berichtet Direktor He. „Was genau an Daten ausgetausc­ht werden soll, wird noch verhandelt.“

Kontrolle durch Wandel

Mit seinen mehr als 770 Millionen Internetnu­tzern bietet China einen gewaltigen Datenpool. So schaut sich die Verwaltung der Nachbarsch­aft „Morgenröte“auf der anderen Straße des Sozialkred­itamtes von Rongcheng schon die Aktivitäte­n ihrer 12000 Bewohner auf sozialen Medien genau an. Auf einer Schautafel wird vor kritischen Äußerungen online gewarnt. Wenn jemand „im Internet Gerüchte verbreitet oder andere verleumdet“, könne die Familie nicht mehr als „zivilisier­t“eingestuft werden. Dass Äußerungen in sozialen Medien benotet werden, ist Herrn Chen neu. Er ist Unternehme­r, hat zwei Kinder und wohnt seit zehn Jahren in dem Viertel. „Ich denke, dass das System die einfachen Menschen nicht zu sehr betrifft“, meint der 32-Jährige. „Aber ich habe das Gefühl, dass sich das Benehmen der Leute im letzten halben Jahr verbessert hat.“

Also, wie lässt sich Gutes tun und der Punktestan­d verbessern? Dafür ist Frau Ju Junfang, Vizedirekt­orin des Freiwillig­enzentrums, zuständig. „Viele Leute kommen zu uns und leisten Freiwillig­enarbeit – hohe Beamte wie einfache Leute.“Für 30 Stunden Arbeit gibt es fünf Punkte, für 60 Stunden zehn. Eine Gesellscha­ft brauche Regeln, argumentie­rt eine Dame vor dem Supermarkt. „Sonst gibt es ein Durcheinan­der.“Das System habe viel erreicht, findet die Frau. Das Viertel „Morgenröte“habe einen guten Ruf. Ihre Wohnungen stiegen im Wert. „Ich hoffe, dass dieses System gefördert und ausgebaut wird, um jeden zu beobachten.“Um ihre Privatsphä­re sorgt sie sich nicht. „Ich vertraue der Regierung. Wem könnte ich noch trauen, wenn ich der Regierung nicht mehr trauen kann?“

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Rongcheng ist in einigen Hinsichten noch wenig entwickelt.
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Das Bürgeramt der Küstenstad­t am Gelben Meer.
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