Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Verehrte Gewürzgurke, Dein Globetrottel
Literatur Postkarten sind banal? Für Schriftsteller ist die kleine Form eine Herausforderung. Jurek Becker war darin virtuos
Jede Postkarte, die der Schriftsteller Jurek Becker an seine Frau Christine geschrieben hat – 400 etwa! – hatte ein anderes Bildmotiv. Vor allem aber auch immer eine andere Anrede. Kleine Kostproben aus dem Jahr 1994: Du Vorzugsaktie, Du altes Korallenriff, Du alter Gerinnungsfaktor, Du altes Studentenfutter, Verehrte Gewürzgurke, Du altes Sachverständigengutachten, Du blaues Wunder, Du wunder Punkt, Du alte Überlandheizung, Du heller Wahnsinn … Ähnlich die Selbstbezeichnungen Beckers: Dein Lieblingsdetektiv, dein Handlungsreisender, dein Globetrottel, dein Lieblingscholeriker.
Allein dieses schöne, schwärmerische Spielen mit Adressatin und Absender zeigt, was Postkarten für den Autor Jurek Becker (1937 – 1997) waren: literarische Miniaturen, kleine poetische Gesten, Schreibaufmerksamkeiten. Über 950 Karten, die der Drehbuchautor („Liebling Kreuzberg“) und Romancier („Jakob der Lügner“, „Bronsteins Kinder“) verschickte, haben sich erhalten. Eine große Auswahl davon hat seine Witwe Christine Becker nun zu einem ungewöhnlichen Buch zusammengestellt. Es zeigt, wie virtuos und leidenschaftlich, aber auch mit wie viel Sorgfalt, Charme und Humor Jurek Becker diese kleine Form in sein Schreiben aufgenommen hat. Zu den Adressaten der kleinen Ansichtskarten-Prosa, deren munterer, herzlicher, oft übermütiger Ton die Lektüre zu einem Vergnügen macht, gehörten neben Christine Becker und den Söhnen vor allem der Lebensfreund und Schauspieler Manfred Krug und dessen Frau Ottilie, aber auch Jurek Beckers Lektorin Elisabeth Borchers und der Maler und Berliner Nachbar Max Neumann.
Briefe gelten gemeinhin als anerkanntes Werkzeugnis von Schriftstellern – sie sind in Bibliotheken in tausenden Büchern auf hunderten Regalmetern gesammelt. Neben diesen „ernsthaften“Korrespondenzen für die Ewigkeit erscheinen Postkarten wie Schmuddelkinder für den Moment. Mit ihrem begrenzten Textfeld und ihrer fehlenden Diskretion im öffentlichen Versand fallen sie leicht unter den Tisch. Dabei haben die meisten großen Literaten auch die populäre Ansichtskarte genutzt – James Joyce, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, F. Scott Fitzgerald, Virginia Woolf…