Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Systemrele­vant

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger allgemeine.de

Autoren greifen ebenso zur Ansichtska­rte. Der frühere Hanser-Verleger und Dichter Michael Krüger hat eine Sammlung von 800 Karten, die ihm Schriftste­ller wie Peter Handke, Brigitte Kronauer und Herbert Achtenbusc­h geschickt haben. Krüger sagt über Postkarten: „Das ist das offenste Medium und deshalb sind die Texte verschlüss­elt.“Und: „Gute Postkarten­schreiber“, diese Erfahrung hat der Empfänger Krüger gemacht, „wählen genau aus.“Dann ist das Bildmotiv eben kein Zufall – sondern immer Teil der Botschaft. Genau das trifft auf das Kartenwerk Jurek Beckers zu, dessen Affinität zum Medium beispiello­s dasteht. Denn mit den UrlaubsZei­tgenössisc­he grüßen, wie wir sie kennen, hat das Kartenschr­eiben des DDR-Dissidente­n wenig gemein. Im Gegenteil: Becker nahm auf seine Reisen stets einen Stapel sorgsam ausgewählt­er Motivkarte­n mit. An Ortsmotive­n vom Kiosk war er wenig interessie­rt. Aus Augsburg etwa schickte er das Studiobild einer Blondine vor einer violetten Vespa. Becker überließ wenig dem Zufall – auch nicht in den Texten, die oft vorformuli­ert waren. Er entwarf sie in eigenen Heften, die er dafür angelegt hatte. So schrieb er am 4. Mai 1996 an Manfred Krug vor der Arbeit an der fünften Staffel der populären TVSerie „Liebling Kreuzberg“: „Vielleicht ist es Dir eine kleine Hilfe, wenn ich Dir zum Drehbeginn einen (natürlich nicht vollständi­gen) Katalog menschlich­er Ausdrucksm­öglichkeit­en schicke. Laß Dich anregen …“Das Bildmotiv zeigt eine lustige Collage aus 40 Babybilder­n.

Ein sprachlich­es Kabinettst­ück ist eine Karte (Bildmotiv: Eiffelturm im Bau) von 1996 an einen Freund in München: „Lieber Achim, vielleicht interessie­rt Dich ein Blick auf meinen Lebenslauf, an dem ich genatürlic­h rade schreibe: Ich wurde am, in, als einziges. Mein Vater war, meine Mutter. Bei Kriegsausb­ruch kam ich, wo ich bis zum. Nach Ende des blieb mein Vater mit mir, was ich bis heute nicht. Er hätte doch auch. Jedenfalls ging ich zur und wurde ein halbwegs normales (...).“

Wie die unter dem Titel „Am Strand von Bochum ist allerhand los“herausgege­bene Sammlung zeigt, genoss es Jurek Becker, das Alltagsmed­ium wie ein Spielzeug immer neu zur Hand zu nehmen. Was er schreibt, ist weder bedeutungs­überladen noch banal, und der Adressat kann sich stets persönlich angesproch­en fühlen. Jede Seite des Buches zeigt Transkript­ion des Textes und beide Kartenseit­en im Faksimile. Eine Hommage an die Postkarte – und eine Feier des Kunststück­s auf engstem Raum.

» Jurek Becker: Am Strand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. Suhrkamp, 398 Seiten, 32 Euro

In Umwelt, Zivilisati­on und Gesellscha­ft gibt es so einiges, dem wir eine Weiterexis­tenz wünschen. So viel Schützensw­ertes, Förderungs­würdiges, Daseinsber­echtigtes da draußen! Zebrastrei­fen, Steckdosen, Alleebäume, Höflichkei­t, Fertiggeri­chte, Handschrif­t, Mond, Nachtruhe, Wiesenblum­en, Tatort am Sonntag, ICE, Fachärzte. Anderes wiederum bleibt einfach, obwohl man es vielleicht nicht vermissen würde. Soli, Stechmücke­n, Parkverbot­e, Geschwätz, Kleingeld, Heino, Grenzkontr­ollen, Hundekacke, Vorurteile, Zölibat, Fahrradhel­me.

Aber unverzicht­bar? Was ist der Kernbestan­d, der nicht angetastet werden darf? Wo sind die Axiome des Daseins? Die Luft zum Atmen, die Grundrecht­e, die Gewaltente­ilung, die Currywurst, das Internet, Fußball, der verkaufsfr­eie Sonntag.

Vieles ist Ansichtssa­che, manches immerhin Grundkonse­ns. Aber es gibt eine Instanz, die sich zutraut, per Definition das Unverhande­lbare zu bestimmen: die Bundesregi­erung. Sie braucht dazu nicht viel, der Erklärungs­aufwand ist überschaub­ar und steckt in einem einzigen Wort: systemrele­vant.

Banken drohen zusammenzu­brechen? Geht gar nicht, werden alternativ­los gerettet, weil sie systemrele­vant sind. Denn, so erklärte man es uns einst: krachen die Banken, kracht das System. Man sägt nicht an dem Ast, auf dem man sitzt.

In einer Reihe mit den Banken stehen nunmehr die Bienen. „Bienen sind systemrele­vant“, sagte honigsüß die neue Landwirtsc­haftsminis­terin Julia Klöckner. Das ist eine neue Qualität. Die Schöpfung, qualifizie­rt, bilanziert und relativier­t durch eine Ministerin. Bienen systemrele­vant, Wespen nicht? Katzen systemrele­vant, Amseln nicht? Basilikum systemrele­vant, Löwenzahn nicht? Wollte Klöckner unter Anspielung auf den Nutzwert der Bankenrett­ung sagen: Bienen müssen eine sichere Bank bleiben im Naturkreis­lauf?

Ist es nicht vielmehr so, dass sich die Menschheit ganz andere Fragen stellen muss? Nämlich: Was ist eigentlich das „System“? Und wie relevant ist das System?

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Fotos: Suhrkamp Nichts ist zufällig, das Bildmotiv immer eine Anspielung: Diese Karte mit den Seriendars­tellern von „Bonanza“schrieb Jurek Becker an Manfred Krug, der in der Fernsehser­ie „Wir sind auch nur ein Volk“(Drehbuch: Becker) mitspielte. „Zu jeder Zeit, an...
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Welches Gästebett soll es werden? Schönes Thema für den Schreiber Jurek Becker.
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