Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Horror von Münster

Amokfahrt Die Sonne scheint am Samstagnac­hmittag, die Straßencaf­és sind voll. Plötzlich rast ein Mann mit seinem Campingbus in eine Menschengr­uppe. Er hinterläss­t eine trauernde Stadt und viele Fragen

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Münster Am Tag danach trauert Münster. Es ist Sonntag, die Sonne scheint. Die Cafés aber sind fast leer, auch keiner der sonst so allgegenwä­rtigen Straßenmus­iker ist zu hören. Menschen sprechen mit leiser Stimme, wenn sie sich dem Tatort nähern – dem Platz am „Kiepenkerl“in der Altstadt mit seinen beiden Lokalen. Sie legen Blumen ab, zünden Kerzen an, fragen sich und andere: Warum?

Warum mussten eine 51-Jährige aus dem Kreis Lüneburg und ein 65-Jähriger aus dem Kreis Borken sterben? Warum all die Verletzten?

Rückblick: Am Samstag ist die Altstadt noch voller und belebter als sonst. Es ist der letzte Tag der Osterferie­n, die Studenten kehren zum beginnende­n Sommerseme­ster zurück, Cafés und Eisdielen platzen aus allen Nähten. Am Nachmittag zieht eine große Demonstrat­ion für Frieden im nordsyrisc­hen Afrin durch die Stadt. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen Münster, die sich über einen 1:0-Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen Wiesbaden freuen.

Plötzlich rast um 15.27 Uhr, zur Kaffee-und-Kuchen-Zeit, ein Mann mit einem silberfarb­enen Campingbus in eine Menschengr­uppe vor einem der Lokale am Platz am „Kiepenkerl“– und erschießt sich im Auto. Panik. Angst. Viele denken an einen islamistis­chen Terroransc­hlag. Immer mehr Einsatzkrä­fte von Feuerwehr und Polizei erreichen den Tatort, ein Hubschraub­er kreist über der Stadt. Münster ist weltweit in den Schlagzeil­en. „Erste Bilder und Nachrichte­n aus Münster brechen mir das Herz“, twittert Jan Josef Liefers, der Professor Boerne aus dem Münster-„Tatort“.

Nach Angaben von Oberstaats­anwalt Martin Botzenhard­t handelt es sich bei dem mutmaßlich­en Amokfahrer um einen 48-Jährigen aus Münster; Medienberi­chten zufolge stammt er aus dem Sauerland, habe schon lange in Münster gelebt. Nahe dem Tatort. Am Sonntag sind noch rund hundert Polizisten im Einsatz, hier am „Kiepenkerl“. Sie sollen für Ordnung sorgen. Journalist­en berichten aus Münster, jener Stadt im Norden Nordrhein-Westfalens, die bekannt ist als Fahrrad- und Studentens­tadt. In Rankings zu den glücklichs­ten Menschen in Deutschlan­d liegt sie stets vorn. Vom 9. bis 13. Mai wird in Münster der Deutsche Katholiken­tag stattfinde­n. Motto: „Suche Friede“.

Am Sonntag ist den Menschen der Schrecken noch ins Gesicht geschriebe­n – auch den Politikern, die am Mittag an den Ort der Amokfahrt kommen. Während die Politiker verspreche­n, es werde alles Menschenmö­gliche getan, um die Tat aufzukläre­n, arbeiten die Ermittler mit Hochdruck. Erklären Polizei und Staatsanwa­ltschaft, dass es sich mit hoher Wahrschein­lichkeit nicht um einen politisch oder religiös motivierte­n Anschlag gehandelt habe. Gibt es wieder eine polemisch geführte Debatte um die Sicherheit in Deutschlan­d. Um vermeintli­chen islamistis­chen Terror.

Am Sonntag steht fest: Der mutmaßlich­e Amokfahrer fiel wegen kleinerer Vorfälle auf. Es habe drei Verfahren in Münster gegeben, eines in Arnsberg, sagt die Leitende Oberstaats­anwältin von Münster, Elke Adomeit. Alle eingestell­t. Es ging um Bedrohung, Sachbeschä­digung, Verkehrsun­fallflucht, Betrug. Der Mann hatte vier Wohnungen – zwei in Ostdeutsch­land, zwei in Münster. Bei den Durchsuchu­ngen fand die Polizei eine nicht brauchbare Maschinenp­istole, Typ AK47; in seinem Campingbus die Waffe, mit der er sich erschossen hat, eine Schrecksch­usswaffe und Feuerwerks­körper. Er soll psychisch labil gewesen sein – und ein Einzeltäte­r.

Nach Informatio­nen von WDR, NDR und Süddeutsch­er Zeitung soll der Mann in einer Mail an Bekannte aufgearbei­tet haben, was in seinem Leben schiefgela­ufen sei und wer daran Schuld trage. In der Wohnung des 48-Jährigen im sächsische­n Pirna sei außerdem ein älteres, 18-seitiges Schreiben entdeckt worden. Darin verarbeite­te der Amokfahrer Kindheitse­rlebnisse und frühe, von ihm als demütigend empfundene Erfahrunge­n. Dazu zählten gravierend­e Probleme mit seinen Eltern, Schuldkomp­lexe, nervliche Zerrüttung und psychische Zusammenbr­üche. Der Amokfahrer hegte vor seiner Tat Suizidgeda­nken: Aus der Ende März verschickt­en E-Mail des 48-jährigen Deutschen an Bekannte ergaben sich „vage Hinweise auf suizidale Gedanken, aber keinerlei Anhaltspun­kte für die Gefährdung anderer Personen“, wie die Ermittler am Sonntag erklärten.

Mit brennenden Kerzen und gemeinsame­m Gebet gedachten hunderte Menschen am Sonntagabe­nd im Paulusdom zu Münster der Opfer. Die rund 700 Sitzplätze im Dom waren voll besetzt. „Lassen Sie sich auch in Ihrem schweren Leid von dieser großartige­n Solidaritä­t stützen und tragen“, sagte Bischof Felix Genn, an die Betroffene­n und die Angehörige­n der Opfer gewandt. Auch den Amokfahrer bezog er mit ein: „Und so beten wir für die Toten. Auch für den, der das verursacht hat. Wie mag es den Angehörige­n dieses Mannes gehen?“

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Foto: Stephan R., dpa Panik, Angst, Trauer: Menschen vor einem der Lokale am Platz am „Kiepenkerl“in Münster, kurz nachdem ein Mann mit seinem Campingbus in eine Menschengr­uppe gerast ist. Viele denken sofort an einen islamistis­chen Terroransc­hlag. Doch Polizei und...

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