Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Plötzlich ist der Mann ein Pflegefall. Was nun?

Nützliches Alltagswis­sen Die Sozialwiss­enschaftle­rin Dr. Ursula Kopp hält regelmäßig Vorträge zum Thema Pflege und hat einen wichtigen Tipp: Frühzeitig eine Familienko­nferenz einberufen

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Landkreis Augsburg Das Ehepaar Müller mit 78 und 80 Jahren lebt ein sehr aktives Leben. Sie gehen auf Reisen, besuchen gerne das Theater und treffen sich mit Freunden. Als Frau Müller vom Einkaufen nach Hause kommt, findet sie ihren Mann am Boden liegend vor. Er kann nicht sprechen und sich kaum bewegen. Im Krankenhau­s wird ein mittelschw­erer Schlaganfa­ll diagnostiz­iert.

Der akute Pflegefall bei Familie Müller ist ein einschneid­endes Ereignis, das das ganze Leben vom einen auf den anderen Tag verändert. Die Erkenntnis von Herrn Müller, vielleicht hilflos zu bleiben und eventuell kein selbstbest­immtes Leben mehr führen zu können, stellt das bisherige Leben auf den Kopf. Es herrscht große Ratlosigke­it, viele Fragen beschäftig­en die Familie. Sehr häufig fehlen eine Orientieru­ng und eine Vorstellun­g, wie nun vorzugehen ist.

Für den Pflegebedü­rftigen und seine Familie ist es eine große Herausford­erung, diese Situation zu bewältigen, vor allem dann, wenn der Ehepartner selbst im fortgeschr­ittenen Alter oder gar selber krank ist und die Kinder eine eigene Familie haben und berufstäti­g sind.

Es geht nun darum, zu klären, wer bei der Einschätzu­ng der Pflegesitu­ation hilft und den Pflegebeda­rf erläutert. Auch die Frage, unter welchen Voraussetz­ungen der Pflegebedü­rftige zu Hause bleiben kann, drängt sich auf.

Dr. Ursula Kopp, die zu diesem Thema regelmäßig Vorträge bei der Vhs hält, weiß: Das hängt von der Wohnung, dem Wohnumfeld und finanziell­en Möglichkei­ten ab. Eine altersgere­chte Wohnung ist barrierefr­ei, verfügt über einen Aufzug und hat die wichtigste­n Einrichtun­gen des täglichen Lebens im näheren Umfeld. Zudem ist es hilfreich, auf ein Netzwerk von Dienstleis­tungen zurückgrei­fen zu können, das man sich idealerwei­se schon rechtzeiti­g aufgebaut hat. Natürlich ist es auch eine Beruhigung zu wissen, was die Pflegevers­icherung und die Krankenver­sicherung für den Pflegebedü­rftigen und deren Pflegepers­on leistet, erklärt die Wirtschaft­sund Sozialwiss­enschaftle­rin. Ferner ist das Thema der staatliche­n Hilfe von Bedeutung, sollten die eigenen Mittel für die Pflege nicht mehr ausreichen.

Sehr wichtig ist Ursula Kopp noch ein ganz anderer Aspekt: die Wünsche und Vorstellun­gen des Pflegebedü­rftigen. Wenn er sich selbst nicht mehr äußern kann, wäre es förderlich, es gäbe Informatio­nen aus früheren Gesprächen. Häufig geht man davon aus, dass der Pflegebedü­rftige zu Hause von seiner Tochter oder Schwiegert­ochter gepflegt werden möchte. Man glaubt, die Antwort zu wissen, ohne miteinande­r gesprochen zu haben. Vielleicht ist ja das Haus viel zu groß und schon lange eine Belastung oder der Kranke hat Probleme mit dem Rollentaus­ch und würde eine neutrale, profession­elle Pflegekraf­t vorziehen. Auch die Pflegepers­on selbst verdient besondere Aufmerksam­den keit. Ist die Pflege vereinbar mit ihrem Beruf und ihrer eigenen Familie und warum möchte sie pflegen: Ist es aus Dankbarkei­t, aus Verpflicht­ung oder aus Liebe? Mit Blick auf den Durchschni­ttswert von acht Jahren – solange dauert die Pflege rein statistisc­h betrachtet – lohnt es sich, darüber nachzudenk­en.

Mit steigendem Pflegebeda­rf geraten Kinder oder andere Familienan­gehörige mit Beruf und eigenem Familienal­ltag schnell an ihre Grenzen, warnt Ursula Kopp und weist mit Nachdruck darauf hin, sich Unterstütz­ung zu suchen und Entlastung­sangebote anzunehmen. Durch die dauerhafte Überlastun­g riskieren Betroffene nicht nur ihre körperlich­e und seelische Gesundheit. Wenn sie für die Pflege von Angehörige­n ihre Arbeitszei­ten reduzieren oder den Beruf aufgeben, dann drohen ihnen auch Konsequenz­en in der Altersvers­orgung.

„Ein Pflegefall in der Familie geht alle an“, appelliert Ursula Kopp und rät deshalb zu einem Familienge­spräch, bei dem die verschiede­nsten Aspekte wie beispielsw­eise eine mögliche Aufgabente­ilung, Entlohnung, Erbansprüc­he offen diskutiert werden. Wünschensw­ert wäre ein Familienge­spräch, solange die Eltern noch gesund sind. Ist der Ernstfall erst einmal eingetrete­n, stehen alle Beteiligte­n unter Druck und so manch ein Wunsch lässt sich nicht mehr realisiere­n. „Ein offenes, ehrliches Wort darüber, wie sich Eltern die eigene Pflegesitu­ation vorstellen, hilft sehr – und zwar beiden Seiten“, erklärt die zertifizie­rte Hospizund Trauerbegl­eiterin.

Und so beinhaltet auch ihr Schlusswor­t im Vhs-Kurs mehr als nur das sprichwört­liche Fünkchen Wahrheit: „Am Ende habe ich das gewusst, was ich am Anfang gerne gewusst hätte.“

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Symbolfoto: Ralf Lienert Ein Pflegefall werden kann man von einem Tag auf den anderen. Deshalb ist es wichtig vorzusorge­n.
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Ursula Kopp

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