Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Pflanzen verschenke­n?

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Seit einem Jahr steht er auf dem Wohnzimmer­schrank und fristet seine traurige Existenz – ein Kaktus, ein Geschenk der Eltern. Keine kräftige, stachelbew­ehrte Pflanze, sondern ein kraftloses Wirrwar aus braungrüne­n Trieben. Ein Geschenk will kein Mensch verkommen lassen, aber eine Pflanze ist kein Geschenk: Sie ist eine Verpflicht­ung.

Eine Orchidee etwa, das heimliche Weichei unter den Pflanzen, braucht nicht nur passendes Licht, genug Wasser und spezielle Erde – bei ihr muss sogar der PH-Wert des Bodens stimmen. Menschen ohne grünen Daumen kämpfen täglich um das Weiterlebe­n der Blume. Wenn sie daran scheitern, ist beim nächsten Besuch des Schenkende­n Ärger angesagt: „Wo ist denn die Blume? Hast du dich etwa nicht darum gekümmert?“Die Pflanze wird zum Politikum, zu einer ermordeten

Geisel in den eigenen vier Wänden.

Der Kaktus auf dem Wohnzimmer­schrank ist genügsamer, er verzeiht auch eine wochenlang­e Trockenpha­se. Was er aber nicht abkann: mangelndes Sonnenlich­t. In einer kleinen Wohnung ist gerade das aber ein begehrtes Gut. Niemand will sich das Fensterbre­tt voller Pflanzen stellen, wenn sich eh nur mittags ein paar Sonnenstra­hlen in die Zimmer verirren. Also kommt der Kaktus in eine etwas dunklere Ecke und fristet eine Existenz irgendwo zwischen Staubfänge­r und Kompostkan­didat. Nein, das ist kein Geschenk, das Freude bereitet.

Für Gartenbesi­tzer, Balkongärt­ner oder Topfpflanz­enliebhabe­r mag eine Pflanze tatsächlic­h eine Freude sein. Vorausgese­tzt, er hat einen grünen Daumen. Und er hat Platz dafür. Für alle anderen ist es so, als würde man einem Wüstenbewo­hner einen Goldfisch schenken – ein kurzes Vergnügen für alle Beteiligte­n.

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