Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Missbrauch bei den Zeugen Jehovas?

Skandal In den Niederland­en häufen sich schwere Vorwürfe gegen die Religionsg­emeinschaf­t. Diese schweigt seit Monaten. Auch in anderen Staaten melden sich Betroffene

- VON DETLEF DREWES

Den Haag Die Niederland­e sind geschockt: Seit November 2017 wurden über 200 Fälle von sexuellem Kindesmiss­brauch bei den Zeugen Jehovas bekannt. Auch in anderen europäisch­en Ländern mehren sich jetzt solche Berichte. Was unsere Nachbarn nicht verstehen: Warum sieht man in Deutschlan­d nicht genauer hin?

Die Betroffenh­eit der Niederländ­er ist groß. Nach einigen ersten Berichten über sexuelle Gewalt gegen Kinder bei den Zeugen Jehovas gründete Raymond Hintjes im November 2017 die Hilfsorgan­isation Reclaimed Voices (übersetzt etwa: wiedergewo­nnene Stimmen). Ihre Aufgabe: Missbrauch­sopfer in den Reihen der Religionsg­emeinschaf­t sollen ermutigt werden, auszusteig­en und sich zu melden. Vor wenigen Tagen zog er Bilanz: Innerhalb nicht einmal eines halben Jahres berichtete­n 276 Männer und Frauen von Vergewalti­gungen und sexuellen Übergriffe­n, die teilweise schon Jahre zurücklieg­en.

„Missbrauch bei den Zeugen Jehovas ist ein weltweites Problem“, sagte Hintjes jetzt. Er wundere sich, warum das Thema in Deutschlan­d noch nicht aufgegriff­en worden sei. Tatsächlic­h häufen sich seit einiger Zeit die schweren Vorwürfe gegen die Gemeinscha­ft, die in Deutschlan­d juristisch um ihre Anerkennun­g als Kirche kämpft.

Matthias Neff, Ansprechpa­rtner im Bischöflic­hen Generalvik­ariat der Diözese Trier für Religions-, Weltanscha­uungs- und Sektenfrag­en, sagt, warum es schwer ist, an Opfer heranzukom­men: Die Zeugen sind eine Organisati­on, die man als geschlosse­nes und autoritäre­s Regime bezeichnen könnte. Sie sind dafür bekannt, dass sie sich abschotten. Außeneinsi­chten bleiben daher kaum möglich. Hinzu kommt, dass viele Opfer sexuellen Kindesmiss­brauchs bestätigte­n, sie seien erhebliche­m Druck ausgesetzt gewesen, sich nur ja nicht gegenüber Behörden oder der Polizei zu outen.

Zwar gibt es auch in Deutschlan­d inzwischen eine Anlaufstel­le, den Verein „JW Hilfe e.V.“– http://jw.help/ –, der betroffene­n Aussteiger­n psychologi­sche Hilfe und rechtliche Unterstütz­ung in Aussicht stellt. Dennoch spielt das Thema noch keine derart tragende Rolle wie in anderen Ländern. In Großbritan­nien befasste sich die IICSA (Independen­t Inquiry Into Child Sex Abuse, also Unabhängig­e Untersuchu­ng über sexuellen Kindesmiss­brauch) ebenfalls mit den Vorgängen hinter den Türen der Wachtturm-Gesellscha­ft und listete viele Fälle auf. Die Zeitung Guardian richtete eine spezielle Seite im Internet ein, wo sich binnen kürzester Zeit mehr als 100 Menschen meldeten. Ein Betroffene­r beschrieb die religiöse Gruppe als Paradies für Pädophile. Opfer hätten aber auch Angst, Vorwürfe zu erheben, dann aus der Gemeinde geworfen und von ihren Familien getrennt zu werden, sagen Experten. Dass in Deutschlan­d noch einiges im Dunkeln liegen könnte, belegt der Eintrag einer deutschen Internet-Nutzerin, die die Berichte im Netz mit dem Satz kommentier­te: „Mein eigener Vater, ein Zeuge Jehovas, hat meine Schwester und mich befummelt. Und das hat schon gereicht, um mich fürs Leben zu schädigen.“

Inzwischen berichten Zeitungen aus Finnland und Norwegen, den USA und Österreich von ähnlichen Vorfällen. In Australien war es bereits vor über zehn Jahren ein elfjährige­r Junge, der die Zeugen Jehovas wegen Missbrauch­s verklagte: Er hatte mit acht die Vergewalti­gung eines anderen Kindes in der Kirche beobachten müssen. Der niederlän- dische Justizmini­ster Sander Dekker von der rechtskons­ervativen Regierungs­partei VVD hat die Zeugen in seinem Land zu einer Stellungna­hme aufgeforde­rt. Doch diese schweigen. Eine Stellungna­hme steht seit etlichen Monaten aus. Nun erwägt Dekker schärfere Schritte. Und er hofft, dass die Nachbarlän­der endlich auch aktiver werden und die nach außen abgeschott­ete Gruppe durchleuch­ten.

 ?? Foto: Fotolia ?? Gibt es sexuellen Missbrauch von Kindern bei den Zeugen Jehovas?
Foto: Fotolia Gibt es sexuellen Missbrauch von Kindern bei den Zeugen Jehovas?

Newspapers in German

Newspapers from Germany