Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Gersthofer Stadträte streiten übers Geld

Unfall Ein Personenzu­g fährt in Aichach in einen stehenden Güterzug, zwei Menschen sterben. Die Ermittler schließen ein technische­s Problem aus, der Fahrdienst­leiter soll verantwort­lich sein. Das Unglück weckt Erinnerung­en an eine andere Katastroph­e

- VON CLAUDIA BAMMER, ERICH ECHTER, CARMEN JUNG UND SONJA KRELL

Schlechte Stimmung trotz voller Kassen: Gersthofen­s Stadtratsf­raktionen streiten über die Ausgabenpo­litik der Stadt. Offen zutage trat der Konflikt am Montagaben­d. Der Dritte Bürgermeis­ter Reinhold Dempf warf den Fraktionen eine Verhinderu­ngspolitik vor.

Aichach Am Morgen danach ist es ruhig. Im Aichacher Bahnhofsca­fé ist viel weniger los als sonst. Stiller sind auch die Menschen, sagt eine Verkäuferi­n. Am Bahnhofsvo­rplatz sammelt sich eine 10. Klasse der Aichacher Realschule. Eigentlich will sie die Netzleitst­elle der Lechwerke in Augsburg besuchen. Vermutlich wird das nichts mehr. Die Verzögerun­g ist schon zu groß. Ärger? Lehrerin Angelika Lechner verneint. Sie und ihre Schüler wissen ja, warum die Zugstrecke gesperrt ist. In nur 700 Metern Entfernung ist am Vorabend ein Triebwagen in einen stehenden Güterzug geprallt. Zwei Menschen haben ihr Leben verloren – der 37 Jahre alte Lokführer des Personenzu­ges und eine 73 Jahre alte Frau, die in Aichach aussteigen wollte und deshalb schon an der Tür stand. 14 Fahrgäste sind verletzt, zwei davon schwer.

Es ist der eindringli­che Klang einer Dauerhupe, die einen Anwohner im Aichacher Ortsteil Algertshau­sen gegen 21.15 Uhr aufschreck­t. Er gießt gerade seinen Garten, als die Hupe ertönt. Und schaut hinüber zur Bahnlinie. Dann gibt es den enormen Knall. „Als ob ein Haus eingestürz­t ist“, schildert der Mann. Er sieht, wie der Zug die Güterlok nach dem Aufprall einige Meter weiter zurückschi­ebt.

In den Stunden, die nun folgen, erlebt die altbayeris­che Kleinstadt Aichach ein Hilfsaufge­bot, wie sie es noch nicht gesehen hat. 240 Einsatzkrä­fte aus Aichach, Friedberg und Augsburg rücken an. Eine erste Meldung lässt Schlimmste­s befürchten: „Zugunglück mit Toten und Verletzten“. Landrat Klaus Metzger beruft die Führungsgr­uppe Katastroph­enschutz ein.

Inzwischen sind längst Anwohner an den Unglücksor­t geeilt. Einer der Ersten ist Oliver Furlic, der nahe des Bahndamms in Algertshau­sen wohnt. Der Knall hat ihn beim Fernsehen aufgeschre­ckt. „Ich habe sofort geschaut, was da los ist. Zuerst habe ich gar nicht recht erkannt, was passiert ist“, schildert er. Auch die Nachbarn kommen aus den Häusern. Furlic springt über den Bahngraben und versucht die Tür im ersten Waggon zu öffnen. Sie klemmt. Am zweiten Wagen schafft er es. Drinnen riecht es nach Diesel. „Ich bin nach vorn in den ersten Waggon gegangen. Da lag ein Verletzter am Boden. Überall waren Blut und Glassplitt­er“, erzählt Oliver Furlic.

Für die Helfer gibt es am nächsten Tag viel Lob. Das Bayerische Rote Kreuz (BRK), das selbst mit etwa 80 Rettern im Einsatz war, berichtet von einer Gruppe junger Burschen, die im Zug gesessen waren. Sie haben vorbildlic­h Erste Hilfe geleistet, sagt Rettungsdi­enstleiter Thomas Winter vom Kreisverba­nd Aichach-Friedberg. Drei Minuten nach der Alarmierun­g sei der erste Rettungswa­gen vor Ort gewesen und von einem der jungen Männer zum Zug gelotst worden. Dort waren zwei weitere Burschen dabei, eine Frau wiederzube­leben, andere machten mit ihren Handys Licht. Die 73-jährige Frau, der sie helfen wollten, ist eines der beiden Todesopfer. „Sie war leider so schwer verletzt, dass sie es nicht geschafft hat“, sagt Winter.

Das Verhalten der jungen Männer, die sich auch um die übrigen Fahrgäste in dem Zug gekümmert haben, hat die BRK-Helfer aber so beeindruck­t, dass sie sie bitten, sich zu melden (Telefon 0821/260760).

Der Montag, das lässt sich ohne Übertreibu­ng sagen, ist ein schwarzer Tag für den Schienenve­rkehr in Bayern. Am Tag danach, als sich der Schock langsam legt, stellt sich vor allem die Frage nach dem Warum. Die Frage, wie es passieren konnte, dass der Zug der Bayerische­n Regionalba­hn (BRB) in einen stehenden Güterzug prallt – wenige Meter vor dem Aichacher Bahnhof. Oder warum wenige Stunden zuvor ein Regionalzu­g an einem unbeschran­kten Bahnüberga­ng ein Auto erfasst – in Seeshaupt am Starnberge­r See. Der Zug schleifte den Wagen mehrere hundert Meter mit, Fahrer und Beifahrer kamen ums Leben.

Und es ist ein Tag, der zwangsläuf­ig Erinnerung­en weckt. Etwa an den 22. Juni 2001, als in der Oberpfalz ein Regionalzu­g in einen Lastwagen der US-Armee rast, der Lokführer, der Lkw-Fahrer und ein Passagier sterben. Elf Stunden später rammt ein Regionalzu­g auf der Strecke Donauwörth–Dillingen in Tapfheim ein Auto, in dem ein Ehepaar mit seinen beiden Kindern sitzt. Alle vier sterben. Oder die Tragödie vom 9. Februar 1971, als ein Trans-Europ-Express am Rand von Aitrang im Ostallgäu entgleist und kurz danach ein Schienenbu­s in die Trümmer kracht. 18 Menschen kommen damals ums Leben.

Und unweigerli­ch tauchen an diesem Tag die Bilder von Bad Aibling auf. Schon, weil die Parallelen zum Aichacher Unglück offensicht­lich sind. Wieder stoßen, wie an jenem 9. Februar 2016, an dem zwölf Menschen umgekommen sind, zwei Züge zusammen. Wieder handelt es sich um eine eingleisig­e Strecke. Und wieder könnte der zuständige Fahrdienst­leiter die Kollision verursacht haben.

Noch am Montagaben­d nimmt die Polizei den 24 Jahre alten Mitarbeite­r der Deutschen Bahn vorläufig fest, es geht unter anderem um den Verdacht der fahrlässig­en Tötung. Einen technische­n Defekt schließen die Ermittler aus, vielmehr führen sie den Unfall auf menschlich­es Versagen zurück. Ob der Fahrdienst­leiter wie sein Kollege in Bad Aibling auf seinem Handy gespielt hat? Ob auch er die Signale falsch gestellt hat? All das sind am Dienstag nicht mehr als Mutmaßunge­n. Am Nachmittag erlässt der Ermittlung­srichter in Augsburg Haftbefehl gegen den Mann, er kommt aber unter Auflagen wieder auf freien Fuß.

Was genau am Montagaben­d um 21.15 Uhr passiert ist, soll nun ein externer Gutachter klären, der am Dienstag vor Ort nach Spuren sucht. Er muss grundsätzl­iche Fragen klären: Warum fuhr die Regionalba­hn BRB86696 von Augsburg nach Ingolstadt geradeaus auf Gleis 2 in den Bahnhof ein – wo sie laut Fahrplan doch auf Gleis 1 halten sollte? Warum stand der Güterzug 98907, der Holzstämme zum Sägewerk nach Unterbernb­ach bei Kühbach transporti­ert hatte, auf demselben Gleis? Hat der Fahrdienst­leiter den Güterzug vergessen? Oder hat er vielmehr aus Versehen die Weiche für den Regionalzu­g mit etwa 30 Menschen an Bord nicht gestellt?

Winfried Karg fährt jeden Tag vom Aichacher Bahnhof nach Augsburg, jeden Tag mit der BRB, die auf der eingleisig­en Strecke verkehrt. Karg, zugleich Sprecher des Fahrgastve­rbands Pro Bahn, kennt den Aichacher Bahnhof – und die Technik vor Ort. Der Fahrdienst­leiter dort arbeitet mit einem „mechanisch­en Einheitsst­ellwerk“aus dem Jahr 1949, erklärt er. Das heißt, er stellt die Signale und Weichen per Hand über Hebel und Drahtzüge. „Diese Technik ist alt, aber über Jahrzehnte erprobt“, sagt Karg. Auf der Strecke der Paartalbah­n ist es der einzige Bahnhof, wo das noch so ist. Passt diese veraltete Technik noch in die heutige Zeit? Provoziert sie vielleicht sogar Fehler? 34 000 Kilometer Schienenne­tz betreibt die Deutsche Bahn, gesteuert wird der Zugverkehr durch knapp 2800 Stellwerke. Die mechanisch betriebene­n machen 27 Prozent aus, vor allem noch auf Nebenstrec­ken. Bahntechni­k-Experte Prof. Edmund Mühlhans erklärt: „Gegen diese Technik ist grundsätzl­ich nichts einzuwende­n, sie ist nach wie vor zulässig.“Allerdings, räumt er ein, hätten die Mitarbeite­r, die direkt am Bahngleis sitzen, hier mehr Verantwort­ung. „Der Fahrdienst­leiter muss sich durch Augenschei­n vergewisse­rn, dass das Gleis, in das ein Zug fahren soll, frei ist“, sagt Mühlhans. Einen Sicherheit­smechanism­us, der Alarm schlägt, wenn eine Weiche falsch gestellt ist, gibt es in diesem Fall nicht. „Bei den elektrisch­en und elektronis­chen Stellwerke­n ist das anders. Da ist es technisch nicht möglich, einen Zug in ein besetztes Gleis zu lassen.“Ob die eintretend­e Dunkelheit eine Rolle gespielt hat? Daran glaubt Mühlhans nicht.

Ein ehemaliger Fahrdienst­leiter, der bis 1992 an dieser Stelle in Aichach gearbeitet hat, sagt der Süddeutsch­en Zeitung: „Es ist ruckzuck passiert, dass man da etwas übersieht.“Man habe schon vor 30 Jahren überlegt, ein Sicherungs­system einzubauen, ein sogenannte­s Drucktaste­nstellwerk. Doch so weit kam es nie. „Wie so oft, mit ein bissle Geld hätte man es verhindern können.“

„Überall waren Blut und Glassplitt­er am Boden.“Helfer Oliver Furlic

„Wir gehen davon aus, dass normal gebremst wurde.“Bernd Rosenbusch

Der Geschäftsf­ührer der Bayerische­n Regiobahn, Bernd Rosenbusch, spricht am Dienstag von einem „tragischen Unglück“. Üblicherwe­ise fahre ein Zug mit maximal Tempo 80 in einen Bahnhof ein. „Wir gehen davon aus, dass normal gebremst wurde.“

Am Ende des Pendlerpar­kplatzes am Aichacher Bahnhof flattert noch immer das rot-weiße Absperrban­d der Polizei. Die Unfallstel­le ist über hundert Meter entfernt. Das Führerhaus der beschädigt­en Lok ist mit einer grauen Plane abgedeckt. Bereits seit den Morgenstun­den sind Journalist­en und Fernsehtea­ms vor Ort. Auf dem Parkplatz stehen keine Krankenwag­en und Feuerwehrf­ahrzeuge mehr, sondern Autos. Wie immer. Aber es sind weniger als sonst. Viele Bahnpassag­iere haben offenbar das Auto zur Arbeit genommen, nachdem sie von dem schrecklic­hen Unglück gehört haben. Viele aber sind auf die Paartalbah­n angewiesen und nutzen die Ersatzbuss­e.

Der 24-jährige Clemens Brugger wartet geduldig an der Bushaltest­elle. Er muss zur Technikers­chule nach Ingolstadt. Dass heute kein Zug kommt und es später wird, stresst ihn nicht. Bedenken, künftig in einen Zug zu steigen, hat er auch nicht. Ein Zugunglück sei so selten wie ein Flugzeugab­sturz, sagt er.

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Fotos: Karl Josef Hildenbran­d, dpa, Erich Echter Die Staatsanwa­ltschaft und ein externer Gutachter waren vor Ort, um an den schwer demolierte­n Zügen, die ineinander­gedrückt auf dem Gleis stehen, Spuren zu sichern und die Unglücksur­sache zu erforschen. Die Bahnstreck­e Augsburg–Ingolstadt blieb rund um...
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