Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Als Wandern zur Lust wurde

Kulturgesc­hichte „Zurück zur Natur“erscholl es vor 200 Jahren und die Menschen begannen, Landschaft neu zu erleben. Jetzt widmet sich eine Ausstellun­g der Erfindung des Wanderns

- VON ROLAND MISCHKE

Berlin Es ist kaum zu glauben: Gewandert wird seit Jahrtausen­den, es gibt Chroniken und Bücher, die davon berichten. Aber die Schau „Wanderlust“in Berlin ist die erste Kunstausst­ellung überhaupt zu dem Thema. Heute hat das Wandern ja auch Konjunktur, wird als Entschleun­igung begriffen. Der beruflich, auch privat gehetzte Mensch ist zwar schon alltäglich in den sozialen Medien unterwegs, aber die Sehnsucht nach Langsamkei­t, Ruhe und Naturerleb­nis nimmt ständig zu. Etwa 40 Millionen Deutsche wandern, Menschen aller gesellscha­ftlichen Schichten – das Wandern ist nicht mehr nur des Müllers Lust.

Das war schon vor 200 Jahren so. In diese Zeit werden die Besucher in der Alten Nationalga­lerie geführt, auf einem großen Rundgang, der als Wanderung, auch als Pilgerweg angelegt ist. Die Wanderburs­chen und ihre Frauen erlebten vor zwei Jahrhunder­ten die beginnende Industrial­isierung, ein gewaltiger Ein- in das bis dahin überschaub­are Leben und Arbeiten. Hinzu kamen politische Umbrüche, Kriege und allerlei andere Übel. Da gab es die Fluchtmögl­ichkeit Wandern.

Der alte Fußmarsch wurde ab etwa 1800 modernisie­rt, eine neue Kulturtech­nik bildete sich heraus. Mit im Spiel waren bekannte Künstler: etwa Paul Gauguin und Gustave Courbet in Frankreich, in Deutschlan­d Caspar David Friedrich, dessen „Wanderer über dem Nebelmeer“zu seinen berühmtest­en Gemälden gehört. Die Kuratoren der Ausstellun­g haben Unglaublic­hes bis aus abgelegene­n Depots geholt, manches – meist von unbekannte­n Malern – verstaubte in Kammern und Kellern in Kopenhagen, Paris, Prag, Moskau.

Wandern wurde seinerzeit entdeckt als ästhetisch­es Erlebnis. Zuvor hatte man die Natur viel gleichgült­iger hingenomme­n, man betrat sie und marschiert­e durch. Sie war lästig mit ihrem Regen und den Tieren, den Postkutsch­en auf langen Fahrten. Doch dann schrieb damals Jean-Jacques Rousseau: „Ich sehe nichts als Feindselig­keit auf den Gesichtern der Menschen, die Natur hingegen lächelt mir beständig.“

Das war die Wende. Auf einmal wurde die Natur als mystisch empfunden, Wald und Feld als Seelenorte, Berge als Wege zu Gott. Vor allem die deutschen Romantiker gerieten außer Rand und Band. Das zeigen auch die ausgestell­ten 120 Werke. Caspar David Friedrich lief von Dresden in die Sächsische Schweiz und ins Riesengebi­rge, wanderte nach Neubranden­burg, Greifswald und auf die Insel Rügen. Wandern versprach Individual­ität und Intensivie­rung des Lebens.

Frauen, übrigens, wanderten mit. Bis dahin hatten sie nur spazieren dürfen. Der Däne Jens Ferdinand Willumsen hat 1912 seine Ehefrau mit langem Rock, Hut und Stock porträtier­t. Richard Riemenschn­eischnitt der schuf 1895 das Gemälde „Dame im Reformklei­d“. Rousseaus „Zurück zur Natur“bezog alle ein. Das zeigen die vielen Wanderszen­en. Die Ersten, die so malten, waren die Schweizer Caspar Wolf und Heinrich Wüest. Stets spielte die erhabene Einsamkeit eine Rolle, gern über allen Gipfeln und den Palmen bis in den Süden Italiens. Spitzweg, später Barlach, Kirchner, Nolde oder Dix waren dabei.

Um 1900 gründete sich die Wandervoge­lbewegung, ihr Motto hieß „auf Fahrt“, die Welt wurde mit anderen Augen gesehen. Das war die Vorbereitu­ng für das heutige Genusswand­ern, das längst zum Mainstream geworden ist. Es ist eine demokratis­che Kulturprax­is, alle können teilhaben, mit oder ohne Wanderhütc­hen und Stock.

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Wanderlust – von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir

Bis zum 16. September in der Alten Nationalga­lerie in Berlin. Öffnungsze­iten: Di–So 10–18, Do 10–20 Uhr. Der Katalog (Hirmer Verlag) kostet 29 Euro.

Auch die Frauen greifen zu Stock und Hut

 ?? Foto: Statens Museum for Kunst; Hamburger Kunsthalle ?? Richtig intensiv lässt sich Natur nur erleben, wenn man sich in sie hineinbegi­bt, am besten allein: Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“(1818, rechts) und die „Bergsteige­rin“(1912) von Jens Ferdinand Willumsen.
Foto: Statens Museum for Kunst; Hamburger Kunsthalle Richtig intensiv lässt sich Natur nur erleben, wenn man sich in sie hineinbegi­bt, am besten allein: Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“(1818, rechts) und die „Bergsteige­rin“(1912) von Jens Ferdinand Willumsen.

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