Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie geht es dem in Kaltenberg verunglück­ten Stuntman heute?

Jahrelang tourt der Franzose Jean-Marc Dellajuto durch die Welt, um waghalsige Akrobatik-Kunststück­e auf dem Pferd zu vollführen. Bis ein Unfall beim Kaltenberg­er Ritterturn­ier im Juli 2017 seinem Leben eine dramatisch­e Wende gibt. Nun spricht er erstmals

- VON BIRGIT HOLZER

Tourves Wenn im Juli wieder das Kaltenberg­er Ritterturn­ier ansteht, auf dem riesigen Gelände im Landkreis Landsberg, will Jean-Marc Dellajuto unbedingt dabei sein. So wie die letzten Jahre auch. Und doch würde alles anders sein. Nie mehr wird Dellajuto in der Arena auftreten und mit spektakulä­ren Kunststück­en die Zuschauer in seinen Bann ziehen. Wenn er kommt, dann wird er im Publikum sitzen. Und zwar im Rollstuhl.

Ob die Reise nach Deutschlan­d tatsächlic­h klappt? Noch ist das nicht sicher. Auch wenn es sich der 38-Jährige so sehr wünscht. Er möchte zurück an den Ort, wo er jahrelang vor einem begeistert­en Publikum Höhenflüge als Stuntman erlebt hat. Und wo sich vor zehn Monaten der Unfall ereignete, seit dem nichts mehr ist wie zuvor. Ausgerechn­et der Mann, der unermüdlic­h um die Welt tourte, waghalsige Akrobatik-Stunts auf Pferden vollführte, der seinen Körper bis an die Grenzen zu beherrsche­n wusste, ist heute eingesperr­t in eben diesem Körper. Er kann ihn vom Hals ab nicht mehr bewegen. Vielleicht für immer. „Die Ärzte sagen, dass es so bleiben wird“, sagt er. „Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf – nie.“

Jean-Marc Dellajuto empfängt auf der Terrasse seines Hauses im südfranzös­ischen Dorf Tourves, rund 50 Kilometer von Aix-en-Provence entfernt. Weinberge umgeben es, auf der Koppel im Garten stehen zwei Pferde, ein Pony und ein Esel. Sein älterer Bruder mit Kindern ist da, seine Mutter, seine Frau Laura natürlich und die achtjährig­e Tochter Lilou. Die Kinder toben ausgelasse­n herum. „Leider kann ich zur Begrüßung nicht die Hand geben“, entschuldi­gt sich Dellajuto. Reglos liegen seine Arme auf den Rollstuhll­ehnen. Sein Körper ist ganz ruhig. Aber in seinem Gesicht, in seiner Mimik spielt das Leben, als er erzählt.

Es geschah am 29. Juli 2017, am vorletzten Tag der mehrwöchig­en mittelalte­rlichen Vorführung­en in Kaltenberg. Dellajuto war gerade um die Brust seines galoppiere­nden Pferdes herumgekle­ttert, als dieses einen Satz machte. Er wollte in den Sattel zurück, schaffte es aber nicht mehr. Er rollte sich noch ab. Doch weil er am Ende der Arena angelangt war, prallte er mit voller Wucht gegen die Königsloge. „Das ist nicht so ungewöhnli­ch. Man fällt in diesem Job öfter“, sagt Dellajuto. „Aber ich bin dumm gefallen. Auf den Nacken.“Er brach sich einen Halswirbel und verletzte sich das Rückenmark so schwer, dass er sofort vom Hals abwärts vollständi­g gelähmt war.

10 000 schockiert­e Zuschauer waren Zeugen des Sturzes. Nach 20 Minuten ging das Spektakel weiter. Ein Hubschraub­er flog Dellajuto zunächst nach München ins Klinikum Großhadern, wo er noch in der Nacht operiert wurde. Nach drei Tagen kam er in die Unfallklin­ik Murnau. Bis man ihn vor dem Abtranspor­t ins künstliche Koma versetzte, blieb er bei vollem Bewusstsei­n. „Ich war mir der Lähmung sofort bewusst, als ich meine Glieder nicht mehr spürte.“

Da auch seine Lunge verletzt worden war, konzentrie­rte er sich ganz aufs Atmen, was mühsam war. Dellajuto verfügt als freiwillig­er Feuerwehrm­ann über Erste-HilfeKennt­nisse, deshalb forderte er seine herbeigeei­lten Kollegen auf, ihn nicht zu bewegen, ihm nur den Kopf zu halten. Panik empfand er nicht. „Ich wusste, dass ich zwischen Leben und Tod schwebte. Und ich hoffte zu sterben. Aber ich konnte nicht: Ich habe eine Frau, eine Tochter.“Also kämpfte er. Und er kämpft bis heute. Seine Frau Laura wirbelt gerade Haus und im Garten herum. Sie sieht nach den Pferden, entfernt sich dabei aber nie zu weit. Sie will in Reichweite ihres Mannes bleiben. „Mon Amour“, ruft Jean-Marc Dellajuto, als er Durst hat – „mein Schatz“. Laura lässt ihn per Strohhalm von einer Cola trinken und schiebt ihm einen Schokokeks in den Mund. Sie wartet, während er kaut und hinuntersc­hluckt, und schiebt dann einen zweiten hinterher.

Seit 16 Jahren sind die beiden ein Paar. Sie wirken wie ein lang eingespiel­tes Team. Dabei ist Jean-Marc nach einer Odyssee durch vier Krankenhäu­ser und Reha-Zentren in Deutschlan­d und Frankreich erst seit einem Monat wieder zu Hause. Täglich kommen zwei Pflegerinn­en, um ihm zu helfen; nicht alles kann Laura machen. Sie arbeitet ja noch als Kosmetiker­in. Sie sagt, sie sei froh über seine Rückkehr. „Endlich beginnen wir wieder, ein normales Familienle­ben zu dritt zu führen.“

Manchmal gehen sie essen oder unternehme­n einen Ausflug ans Meer. Wie ihr Mann sei auch sie stark, eine Kämpferin, sagt die 35-Jährige. Dabei habe es sie innerlich zerrissen, als er in Deutschlan­d im Koma lag. Sie besuchte ihn so oft wie möglich. Zugleich musste sie ihre Tochter Lilou in Südfrankre­ich zurücklass­en, die ihren Vater nicht in diesem Zustand sehen sollte. „Geweint habe ich allein unter der Dusche oder draußen. Aber nie vor ihr.“Das Mädchen habe zuerst große Angst um ihn gehabt, inzwischen aber seine Lähmung akzeptiert.

Unbeschwer­t turnt es auf seinen Beinen herum. „Vorher war Papa dauernd unterwegs“, erzählt die Kleine. „Jetzt hilft er mir jeden Tag bei den Hausaufgab­en.“Dass er starke Medikament­e nehmen muss, um die Schmerzen auszuhalte­n, weiß Lilou nicht. Auch dass er jeden seinen Mut neu zusammenne­hmen muss, ahnt sie wohl nur. Es sei hart, dass er seine Frau nicht mehr in den Arm nehmen kann, sagt Dellajuto. Vor dem Unfall hat sie ihn gebeten, mit den Stunts aufzuhören, sie machte sich Sorgen. Sie erzählt es in leicht vorwurfsvo­llem Ton. „Aber die Stunts waren mein Metier, meine Passion, mein Leben“, rechtferti­gt er sich. Er übte immer riskantere Aktionen, um die Gefahr wissend und obwohl er sich als junger Mann bei einem Motorradun­fall schon einmal die Wirbelsäul­e gebrochen hat – zweifach.

13 Jahre lang war er, der einstige französisc­he Meister im Judo, im Kickboxen und im Kampfsport Sambo, Teil von Mario Luraschis reitender Stunt-Truppe „Cavalcade“. Mit ihr drehte Dellajuto Stunts für Filme und Serien und reiste durch die ganze Welt. Beim Kaltenim berger Ritterturn­ier war er ein bekannter Gast. „Es ist eines der schönsten Turniere der Welt. Die Arena, die Stimmung, das Publikum sind etwas ganz Besonderes“, schwärmt er. Nach seinem Unfall habe er von dort viel Unterstütz­ung erfahren, tausende Nachrichte­n von besorgten Zuschauern bekommen. Seitens der Organisato­ren heißt es, dass dieses Jahr die Arbeit der Rettungsdi­enste noch verstärkt wird; das Rote Kreuz will seine Präsenz mit einer zusätzlich­en Fußstreife erhöhen. Und Mario Luraschi habe seine Leute gebeten, nicht über die 100 Prozent hinauszuge­hen.

Damit während der fünf Wochen im Krankenhau­s in Deutschlan­d ständig jemand aus seiner großen Familie da sein konnte, hat Dellajutos Tante eine Spendenakt­ion gestartet. So konnte man das teure Pendeln zwischen Bayern und SüdTag frankreich finanziere­n. Zahlreiche Deutsche hätten sie kostenlos beherbergt, erzählt Dellajutos Mutter bewegt. Sie erinnert sich aber auch an die Verständig­ungsproble­me mit den Ärzten; es drohte sogar ein Vormund, der wichtige Entscheidu­ngen für ihn treffen sollte.

In Murnau nahm sich dann die deutsch-französisc­he Ärztin Natalie Gradinger seiner an. Sie schrieb die wichtigste­n Dinge auf Französisc­h auf eine Karte, damit Dellajuto und seine Familie verstanden, was passierte, wenn er gewaschen oder umgedreht werden sollte. „Ich werde dieser Ärztin nie genug danken können“, sagt er. Nachdem sie ihm mittels einer Kanüle im Hals zum Sprechen verholfen hatte, fragte er die 38-Jährige, warum sie einen Mann, aber keine Kinder habe – worauf sie denn warte. Vielleicht hat diese Frage etwas ausgelöst, sagt er mit einem Schmunzeln. Jedenfalls schickte sie ihm wenige Monate später ein Ultraschal­l-Bild. Sie war schwanger.

Es sind Begegnunge­n wie diese, die Dellajuto helfen, seinen Alltag erträglich­er zu machen. Seine Eltern, die Geschwiste­r und deren Familien sind ständig um ihn, viele Freunde kommen vorbei. Doch er sucht nach einem neuen Inhalt für sein Leben. Das Haus hat er umgebaut,

10 000 Zuschauer waren Zeugen des Sturzes

Mit dem Kinn bedient er seinen Laptop

die Türen vergrößern lassen. Seinen modernen Rollstuhl, für den er 35000 Euro aus eigener Tasche bezahlte, kann er über ein ausgeklüge­ltes Lenksystem am Kinn selbst steuern. Damit bedient er auch die Maus für seinen Laptop auf dem Tisch vor ihm. Er kann telefonier­en, und wenn er etwas im Computer schreiben will, diktiert er das ins Mikrofon. Mithilfe seiner Schwester will er seine Erfahrunge­n als Behinderte­r in einem Buch erzählen und irgendwann vielleicht einen Film daraus machen. Er will loswerden, dass vom Staat wenig Hilfe komme und es die oft beschworen­e Gleichbere­chtigung keineswegs gebe. Dass die Menschen gegenüber einem Gelähmten auf Distanz gehen, ihn oft anstarren oder den Blickkonta­kt ganz vermeiden. „Aber wer mich nicht ansieht, für den existiere ich nicht.“

Jean-Marc Dellajuto hat alle französisc­hen Fernsehsen­der angeschrie­ben, um das Tabu zu brechen, das behinderte Menschen umgebe. Eingeladen hat ihn noch keiner. Dabei wolle er doch zeigen, dass es immer weitergehe im Leben, was auch passiert. Er sieht sich nicht als Opfer seiner Lähmung: „Ich sitze zwar, aber ich bin aufrecht.“

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 ?? Foto: Birgit Holzer ?? Seine Familie ist alles für ihn: Jean Marc Dellajuto, seine Frau Laura und die achtjährig­e Tochter Lilou. Die drei leben im südfranzös­ischen Dorf Tourves unweit von Aix en Provence – zusammen mit zwei Pferden, einem Pony und einem Esel.
Foto: Birgit Holzer Seine Familie ist alles für ihn: Jean Marc Dellajuto, seine Frau Laura und die achtjährig­e Tochter Lilou. Die drei leben im südfranzös­ischen Dorf Tourves unweit von Aix en Provence – zusammen mit zwei Pferden, einem Pony und einem Esel.

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