Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Anwalt der Natur

Silberdist­el Der Mediziner Christoph Greifenhag­en kümmert sich um die Gesundheit von heimischen Pflanzen und Insekten. Mitten in der Stadt schafft er ganz besondere Räume

- VON ALEXANDER VUCKO

Kaufbeuren Der Balkenmähe­r zählt ebenso zum Handwerksz­eug des Doktors wie die Lupe. Zur ersten Mahd auf der neu angelegten Allgäuer Blumenwies­e mitten in Kaufbeuren schreitet Christoph Greifenhag­en gerne selbst. Doch weder schweres Gerät noch sein Alter hindern den 84-Jährigen, plötzlich auf die Knie zu fallen und über Fundstücke zwischen Straßen, Baugebiete­n und versiegelt­em Boden zu frohlocken. Denn Glockenblu­men, Margeriten und Kuckucksli­chtnelken finden auf bepflanzte­n Kreisverke­hren und in gekiesten Vorgärten der Neubaugebi­ete kaum mehr Lebensraum. „Eine jämmerlich­e Verarmung“, sagt der Mediziner. Für sein lebenslang­es Engagement als Anwalt der Natur erhält er die Silberdist­el unserer Zeitung.

Öffentlich­e Grünfläche­n werden mit Samenmisch­ungen für einen Sommer aufgepeppt, in den Gärten surren Mähroboter. Die Folge: Heimische Pflanzen verschwind­en, Insekten verlieren ihre Lebensräum­e. Greifenhag­en möchte gegensteue­rn. Er spricht von einer „dramatisch­en Veränderun­g des ökologisch­en Gleichgewi­chts“. Die Gründe liegen für den Kaufbeurer auf der Hand: Überdüngun­g, ständiges Mähen, großflächi­ger Maisanbau, Bodenversi­egelung und der Einsatz von Unkrautver­nichtern.

Was entstehen kann, wenn man der Natur Raum lässt, zeigt sich in Greifenhag­ens Garten, einer ehemaligen Viehweide. Vor 45 Jahren ersetzte der Mediziner die alte Humusdecke durch einen mageren Schotter. Es gibt Experten, die den Garten für die älteste angelegte naturnahe Wiese in Deutschlan­d halten. Heute ist sie ein Paradebeis­piel für eine typische Allgäuer Blumenwies­e, auf der Milder Mauerpfeff­er ebenso wie Breitblätt­riges Knabenkrau­t blüht und 120 Pilzarten wachsen. Wer möchte, den führt Greifenhag­en durch sein Reich. Kalkmagerr­asen mit seiner Artenvielf­alt sei Jahrtausen­de lang fester Bestandtei­l der Allgäuer Landschaft gewesen, sagt er und zeigt mit Glanz in den Augen auf sein jüngstes Fundstück: eine kleine Faltenlili­e, die eigentlich im alpinen Gelände heimisch ist.

Im Krieg streifte er als Bub durch die Wälder des Erzgebirge­s und versorgte die Familie mit schmackhaf­ten Pilzen. Sein Beruf als Internist, Reha-Mediziner und Notarzt hielt ihn nicht ab, sich als Mitbegründ­er des örtlichen Kneippvere­ins, Arzt des Bayerische­n Skiverband­es und im Versehrten­sport zu engagieren. Greifenhag­en gründete Biotop-Patenschaf­ten, schaffte mit der Aktion „Löffelkrau­t und Co.“im Allgäu große Aufmerksam­keit für kleine Pflanzen, war Naturschut­zwächter im Ostallgäu, bot fachliche Führun- gen an. Als Pilzsachve­rständiger ist er Ratgeber für Giftnotruf­zentralen. 2014 wurde er mit dem Kaufbeurer Umweltprei­s ausgezeich­net. Greifenhag­en sagt, er wolle nicht immer auf Politik und Landwirtsc­haft schimpfen. Lieber holt er sich die Natur dahin zurück, wo man sie ihm genommen hat – in die Stadt. „Man muss Menschen sensibilis­ieren und begeistern“, sagt Greifenhag­en, der sich als Vormacher sieht. „Alles andere ist nur Blabla.“

Das naturnahe Konzept seines Gartens übertrug er auf mehrere Wiesen an Schulen. Aber selbst Abstandsfl­ächen in Gewerbegeb­ieten böten dafür Möglichkei­ten, sagt Greifenhag­en. Unterstütz­t von Heimatvere­in, Bund Naturschut­z, Landesbund für Vogelschut­z, Bürgerstif­tung Kaufbeuren, Stadt, Unternehme­n und Privatpers­onen möchte er damit vor allem den Schülern Anschauung­smaterial unter freiem Himmel bieten. Informatio­nstafeln erklären, was auf den besonnten, nährstoffa­rmen Wiesen wächst. Derzeit bereitet er mit seinen Helfern den Boden für die fünfte Allgäuer Blumenwies­e. „Betreten ausdrückli­ch erwünscht!“, heißt es dort bald.

Dass es sich bei diesen Blumenmeer­en zuvor um verpönte sogenannte Fettwiesen gehandelt hat, sieht später niemand mehr. Greifenhag­en und seine Helfer trugen Grasnarbe und Oberboden ab, ersetzten sie durch Kies und eine dünne Schicht Komposterd­e. Nach dem Ausbringen der Samen sprießen die ersten Pflanzen zwar noch im selben Sommer, die wahre Blütenprac­ht entfaltet sich aber erst später. „Das nimmt von Jahr zu Jahr zu“, verspricht Greifenhag­en. Eine solche Wiese ist übrigens mit wenig zufrieden. Eine Mahd pro Jahr reicht in diesen Paradiesen – Blumen, Schmetterl­inge, Bienen und Insekten danken es.

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Foto: Mathias Wild Wenn es blüht und sprießt, freuen sich Tier und Mensch: Christoph Greifenhag­en in seinem Garten.

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