Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein schönes Verbrechen

Graffiti Stoisch dokumentie­rte die Polizei Zürich in den 1970er Jahren die spielerisc­h-provokativ gesprayten Sprüche im öffentlich­en Raum. Damit zeigt sie sich im Nachhinein als Freund und Helfer der Dokumentat­ion von Zeitgeschi­chte

- VON MICHAEL SCHREINER

„Keine Autos mehr, sie stinken“„Wie der Wind aufhört zu drehen, so hören wir auf zu leben“„Schöne Arschnacht­en ihr Weinlöcher“

„Lieber Lesbisch vom Esstisch als locker vom Hocker“„Nieder mit dem Bankgeheim­nis“„alles ist gut – nichts richtig“„Stadt machen Seele kaputt“„Ich möchte so doof wie Travolta sein“

„Unsere Sprays könnt ihr übertünche­n – unsere Träume nicht!“

Poesie, Protest, Anarchie, Spiel, Provokatio­n. Es war einmal eine Zeit, eine Blütezeit für solche Sätze. Sie tauchten über Nacht auf in der Stadt. Sie standen auf Straßen, Beton, Fassaden, Mauern, Autos und Schaufenst­erscheiben, hingespray­t von Leuten, die wie Phantome sind und höchst selten erwischt werden. Es sind Spontisprü­che, Losungen der Stadtindia­ner, Blödeleien und absurde Parolen, natürlich auch Politische­s wie „Zerschlagt die Nato“oder „AKW nein“. Berlin? Frankfurt? Nein, wir sind in Zürich.

Auch die Schweiz kann Aufmüpfigk­eit und Studentenr­ebellion. Zürich gerät in den Sog der Verände- rungen, welche die 68er-Bewegung ausgelöst hat – die Stadt als Protestrau­m.

Alles, was die Beamten vom Kriminalko­mmissariat III der Stadt Zürich machen können, ist, die Graffiti und Tatorte zu fotografie­ren, zu dokumentie­ren und in ihrer geheimen Kartei abzulegen, die sie 1976 angelegt haben. Die hat den Namen „Schmieren/Kleben“und wird akribisch geführt in der Schweizer Metropole, wo man Angst hatte vor der Entstehung einer „Schweizer RAF“. 2000 Fotos, fast alle in Schwarz-Weiß, umfasst die Sammlung des KK III, als sie Ende der 1980er Jahre im Zuge der Aufklärung eines Bespitzelu­ngsskandal­s aufgegeben werden muss und dann ins Stadtarchi­v Zürich wandert.

Graffiti sind flüchtig, haben keine Dauer. „Die Polizei hat in diesem Fall ihrem Ruf als Freund und Helfer alle Ehre gemacht. Den Interventi­onisten nahm sie die mühselige Arbeit der Dokumentat­ion und Archivieru­ng ab“, meint der Kunstwisse­nschaftler Jörg Scheller. Es ist eine einzigarti­ge Dokumentat­ion, die in klassische­n, amateurhaf­t-bemühten Tatortfoto­s zeigt, was wo gesprüht wurde, „als die Spraydose nach Zürich kam“. Und mehr als das. Die Kartei offenbart auch den kafkaesken, zwanghafte­n Charakter der Bürokratie. Man sieht sie vor sich, die Beamten der Stadtpoliz­ei, wie sie 13 Jahre lang Karteikart­e um Karteikart­e in die Schreibmas­chine spannen und stoisch tippen, was an Neueinträg­en im öffentlich­en Raum gesichtet und gesichert worden ist. „Schlüsselg­asse 16 – Fassade – 3./4. 2.82, 18.30-08.30 – schwarzer Spray: Bildet Banden“. Oder: „Neumünster­straße 10 – Kirchenfas­sade – 7./8.1.81, 19.30-10.00 – hellbl. Spray: Die Kirche versagt immer“. Aus zeitlichem Abstand betrachtet hat diese Polizeiarb­eit eine poetische Qualität. Kein Farbbeutel­wurf blieb unerfasst, kein Fragment wurde übersehen. Nur selten kapitulier­ten die Polizei-Dokumentar­isten und schrieben: „Diverse blöde Sprüche.“

Wie in einer Zeitkapsel ist die Szene der späten 1970er und der 1980er Jahre in der Polizeikar­tei „Schmieren/Kleben“konservier­t. Nun hat der Schweizer Verlag Edition Patrick Frey aus diesem Material einen gewichtige­n und einzigarti­gen Bildband gemacht, mit 600 Abbildunge­n. Das Buch im Neckermann­katalog-Format mit dem dokumentar­ischen Titel „Schmieren/Kleben“ermöglicht eine Reise zurück in eine bewegte Zeit des Aufbruchs, in der in Zürich um autonome Jugendzent­ren und gegen alte Autoritäte­n gekämpft wurde und ein Mann namens Harald Nägeli hunderte von Strichfigu­ren und „Fabelwesen“(Karteikart­enbezeichn­ung im KK III) an Wänden der Stadt hinterließ.

Als „Sprayer von Zürich“wurde Nägeli eine berüchtigt­e Berühmthei­t und Symbolfigu­r einer alternativ­en Kultur, die das bürgerlich­e Establishm­ent nervös machte, aber auch ziemlich hilflos aussehen ließ. Das lag auch daran, dass die Sprayer mehr und mehr mit Witz, Selbstiron­ie und dadaistisc­her Sprachlust unterwegs waren statt mit simplen Polit-Parolen. Sie sprayten Sätze wie „Es leben die schwarzen Schafe“, „Sonne auch im Klassenzim­mer“, „Nieder mit dem Fahrstuhl“, „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“. Internatio­nale Solidaritä­t („Verhindert die Ausweisung der türkischen Revolution­äre“) und lokaler Dialekt sind in dieser Bewegung kein Widerspruc­h, wie solche Wandsprüch­e zeigen: „E Frau ohni Maa isch wiänan Fisch ohne Velo“.

Wie sehr Zürich Ende der 70er Jahre in Bewegung war, lässt sich auch an der Interaktio­n ablesen, die auf den Betonwände­n stattfand. Wo einer „Gott ist tot!“gesprayt hat, ergänzt Tage später ein anderer: „Bakunin lebt!“Die Szene machte den öffentlich­en Raum zu ihrer Art von Goldenem Buch der Stadt.

Inzwischen ist auch Zürich Schauplatz einer anderen Straßenkul­tur. „Tags, Fußballklu­b-Namen und Aufkleber“bestimmen das Bild, heißt es in der Fachstelle für Graffiti im Hochbauamt. Und statt eines Kommissari­ats III, das erfasst, gibt es die Organisati­on „Für es schöns Züri“, 83 Mann, die „rund um die Uhr putzen, übermalen und hochdrucks­andstrahle­n.“

Was aber nicht ausradiert werden kann, ist die Kartei „Schmieren/ Kleben“, in der sich auch dieser Spruch findet, 1988 an ein Schulhaus gesprayt: „Graffiti is not vandalism but a beautiful crime“– Graffiti ist kein Vandalismu­s, sondern ein schönes Verbrechen.

Kein Farbbeutel­wurf blieb unerfasst

» Schmieren/ Kleben. Aus dem Archiv KK III der Stadtpoliz­ei Zürich. Edition Patrick Frey, Zürich, 592 Seiten, 70 Euro

 ?? Fotos: Edition Patrick Frey/KKIII der Stadtpoliz­ei Zürich ?? Fünf Beispiele für Graffiti und originelle Sprüche aus dem Stadtraum von Zürich der 1970er und 1980er Jahre.
Fotos: Edition Patrick Frey/KKIII der Stadtpoliz­ei Zürich Fünf Beispiele für Graffiti und originelle Sprüche aus dem Stadtraum von Zürich der 1970er und 1980er Jahre.
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