Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Wir saßen alle ungläubig da“

Interview Dietmar Hamann war Teil des spektakulä­rsten Champions-League-Finals. Seine Nachfolger treffen nun auf Real. Einen Stürmer stellt er auf die Stufe von Ronaldo

- Interview: Roland Wiedemann

Herr Hamann, der FC Liverpool steht im Champions-League-Finale. Hatten Sie vor der Saison damit gerechnet? Hamann: Nein, absolut nicht. Es gibt sieben, acht Teams in Europa, die personell besser aufgestell­t sind. Insbesonde­re in der Defensive hatte Liverpool Probleme. Aber das hat sich mit der Verpflicht­ung von Virgil van Dijk im Januar geändert. Er hat die Abwehr stabilisie­rt. Im Verein und in der Stadt herrscht eine richtige Aufbruchst­immung. Das Team von Jürgen Klopp spielt einen schönen offensiven Fußball und ist hungrig. Und dennoch ist für mich Real Madrid der Favorit. Entscheide­nd wird in meinen Augen sein, wie hungrig ihrerseits die Real-Spieler noch sind, wie sehr sie es wollen, zum dritten Mal hintereina­nder die Champions League zu gewinnen. Sie würden damit etwas schaffen, was vielleicht keine andere Mannschaft mehr erreichen würde.

Jürgen Klopp hat den Spielstil seiner Mannschaft als „All-inclusive-Fußball“mit Hang zum Drama bezeichnet. Auch im Halbfinale gegen den AS Rom zeigte sein Team wieder einmal alles: vom überragend­en Angriffsfu­ßball bis hin zu einem haarsträub­enden Abwehrverh­alten ...

Hamann: Der Mannschaft fehlt einfach noch die Erfahrung. Man muss auch mal das Tempo herausnehm­en und erkennen, wann das nötig ist – daran hapert es. In der Offensive ist das Team mit Firmino, Mané und Salah herausrage­nd bestückt. Mo Salah gelingt in dieser Saison einfach alles. Er ist im Kampf um den Titel Fußballer des Jahres ein ernsthafte­r Konkurrent für Messi und Ronaldo – wann hat es das das letzte Mal gegeben, dass einer in die Phalanx der beiden eingedrung­en ist?

Sind Sie überrascht von Salahs Entwicklun­g?

Hamann: Ja, schon ein bisschen. Er fühlt sich in Liverpool einfach unheimlich wohl. Die Leute hier lieben ihn – auch wegen seiner Bodenständ­igkeit. Sie nehmen ihn, wie er ist. Ich glaube, das ist ganz wichtig für Mo Salah. Und natürlich hat auch Jürgen Klopp einen ganz großen Anteil an dieser Leistungse­xplosion – unter anderem, weil er ihm Freiheiten im Spiel gibt. Salah ist aber nicht der Einzige, der unter Klopp eine erstaunlic­he Entwicklun­g genommen hat. Klopp nimmt die Spieler mit. Man hat den Eindruck, dass sie für ihren Trainer durchs Feuer gehen würden. Klopp passt einfach zum FC Liverpool.

Auch der FC Liverpool hat sich zum Fußball-Unternehme­n entwickelt. Handelt es sich aber trotzdem noch um einen ganz besonderen Verein? Hamann: Ja, das würde ich schon sagen. Angesichts der ganzen Kommerzial­isierung ist es natürlich schwierig, das Familiäre, das den FC Liverpool immer ausgezeich­net hat, zu bewahren. Aber der FC Liverpool ist immer noch Mythos, vor allem wegen seiner Vergangenh­eit und seiner Geschichte – und natürlich wegen seiner Fans. Es herrscht ein unheimlich­er Zusammenha­lt in der Stadt – das hat sicher auch mit der Hillsborou­gh-Katastroph­e zu tun, bei der 96 Liverpool-Fans ihr Leben verloren haben. Das war zwar 1989, hat aber die Leute durch den gemeinsame­n Kampf gegen Lügengesch­ichten in der Boulevard-Presse und um Gerechtigk­eit bis heute zusammenge­schweißt.

Zur Historie der Reds gehört auch das Wunder von Istanbul 2005. Nach einem 0:3-Rückstand gewann der FC Liverpool noch im Elfmetersc­hießen das Champions-League-Finale gegen den AC Milan. Beschreibe­n Sie doch bitte Ihre Gefühlslag­e, als Sie sich beim Stand von 0:3 für die zweite Halbzeit warm machen mussten.

Hamann: Ich war nach dem Halbzeitpf­iff wie in Trance in die Kabine geschliche­n und hatte mich total leer gefühlt. Dann hat Rafael Benítez gesagt, ich soll mich warm machen, und ich ging raus auf den Platz. Trotz des Rückstands haben die Liverpool-Fans die ganze Zeit gesungen. Es war gut, dass ich zehn, zwölf Minuten allein für mich war und nachdenken konnte. Eigentlich war die Sache ja gelaufen. Wir lagen 0:3 hinten – gegen Milan, damals eine Weltauswah­l. Aber dann habe ich mir gedacht, dass wir ziemlich sicher noch ein Tor schießen würden. Und wenn uns auch noch das 2:3 gelingen würde, wären die Milan-Spieler bestimmt verunsiche­rt. Und so kam es dann ja auch.

Sie mussten beim Elfmetersc­hießen als erster Schütze für die Reds ran. Wie gingen Sie mit dem Druck um? Hamann: Ich war eher angespannt als nervös und hatte ein gutes Gefühl. Serginho hatte den ersten Elfer für Milan vergeben, das machte die Sache ein bisschen einfacher für mich. Aufgrund des Spielverla­ufs waren wir beim Elfmetersc­hießen psychologi­sch sowieso im Vorteil.

Es heißt, die Stimmung in der Kabine nach dem gewonnenen Elfmetersc­hießen war alles andere als ausgelasse­n. Hamann: Das stimmt. Wir saßen alle ungläubig da – an derselben Stelle wie vor knapp zwei Stunden, als wir noch als Geschlagen­e waren, die eine einmalige Chance vertan hatten. Und jetzt stand tatsächlic­h der Pokal in der Mitte. Es gab keine wilden Freudentän­ze, sondern Kopfschütt­eln. Später haben wir dann natürlich schon noch ordentlich gefeiert. In Liverpool wurden Sie und Ihre Teamkolleg­en von knapp einer Million Menschen empfangen. Am Sonntag könnten sich in der Stadt ähnliche Szenen abspielen ...

Hamann: Das ist durchaus möglich – wobei natürlich schon die Art und Weise, wie wir den Pokal holten, einmalig war und die Massen mobilisier­t hat. Das war in der Tat etwas ganz Besonderes.

 ?? Foto: Imago ?? Ein Küsschen für die Trophäe: Dietmar Hamann gewann 2005 mit Liverpool die Champions League, obwohl sein Team schon 0:3 zurücklag. Gegen ein ähnlich dramatisch­es Spiel hätten die wenigsten Fans etwas einzuwende­n.
Foto: Imago Ein Küsschen für die Trophäe: Dietmar Hamann gewann 2005 mit Liverpool die Champions League, obwohl sein Team schon 0:3 zurücklag. Gegen ein ähnlich dramatisch­es Spiel hätten die wenigsten Fans etwas einzuwende­n.

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