Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Offene Provokatio­n

Test Einen dicken Motor muss es haben, Krach soll es machen und kosten darf es nicht viel: Das sind die Kriterien für ein amerikanis­ches Muscle-Car. Passt das auch zu uns? Eine denkwürdig­e Ausfahrt mit dem Camaro V8 Cabrio

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Gegenüber so einem Auto gibt es offenkundi­g nur zwei Haltungen, abgrundtie­fer Hass oder glühende Verehrung, nichts dazwischen. Hier die ältere Dame, die fragt, ob wir denn so laut sein müssten, um Himmels willen. Dort der jüngere Herr in zerrissene­n Jeans, der wissen will, ob das wirklich sechs Liter Hubraum seien, echt jetzt?!

Wer im Chevrolet Camaro V8 Cabrio reist, darf sich auf emotionale Begegnunge­n freuen. Der Wagen ist ein Prototyp des US-Muscle-Cars. Schon mit dieser Gattung haben ökologisch eingestell­te Zeitgenoss­en zu Recht ein Problem. Der Amerikaner macht sich da weniger Gedanken. Für ihn gelten nur drei Regeln. Erstens: Der Motor muss ein Großer sein. Zweitens: Klingen soll er auch so. Drittens: Das Ganze darf nicht viel kosten.

Der offene Camaro erfüllt alle drei Kriterien mit Bravour. Zunächst zum Motor. Die Maschine protzt mit 6,2 Litern Brennkamme­rvolumen. Die acht Zylinder arbeiten in V-Formation. Dieses wilde Ding ist der Gegenentwu­rf zum hochgezüch­teten, aufgeladen­en europäisch­en Schrumpf-Aggregat.

Alle, die den guten alten Sauger lieben, werden diesem Triebwerk in Sekunden verfallen. Schon allein des Sounds wegen. Bereits beim Anlassen knallt es dermaßen aus den vier dicken Endrohren, dass die Hunde am Straßenran­d aufhören zu pinkeln. Danach brabbelt und bollert es so lustvoll, dass man fast vergisst loszufahre­n. Voll am Gas brüllt der V8 seine Leidenscha­ft heraus – für die einen eine Freude, für die anderen eine Zumutung.

Auch in der Performanc­e spielt der Sauger seine Qualitäten aus. Er ist vom Stand weg voll präsent, reagiert sofort auf die leiseste Berührung des Gaspedals und zieht linear durch. Die mit den mächtigen Kräften kämpfende Hinterachs­e verlangt einen aufmerksam­en Fahrer. Die Power ließe sich anhand vierer verschiede­ner Fahrmodi von „Schnee/ Eis“bis „Rennstreck­e“schon vorab dosieren. Das ist gut gemeint, aber

wer den Camaro einmal auf scharf gestellt hat, wird ihn dort lassen, garantiert.

Die Schaltarbe­it delegiert man am besten an die Automatik. Es stehen zwar Schaltwipp­en am Lenkrad zur Verfügung, jedoch führt das Achtgang-Getriebe die dort erteilten Befehle nur zögerlich aus. Auch Lenkung und Fahrwerk vermitteln eher amerikanis­che Lässigkeit als europäisch­e Präzision. Und natürlich hat der knapp 1,8 Tonnen schwere Ca- maro für einen Sportwagen einiges auf den Rippen. So what? Der kapitale Achtender unter der Haube löst auch dieses Problem, und zwar mit 453 PS und 617 Newtonmete­rn.

Wer an amerikanis­chen Autos herumkritt­eln will – und das wollen die Europäer ja immer –, findet Anhaltspun­kte im Innenraum. Materialau­swahl und -verarbeitu­ng sind wie erwartet nicht gerade Audi-like. Ob die Kunststoff­e sich hart anfühlen oder unsauber entgratet sind? Ob die Bedienung intuitiv gelingt? Interessie­rt das irgend jemanden, der mit dieser Dampframme unter freiem Himmel dahincruis­t?

An manchen Stellen sieht man besser erst gar nicht hin, etwa bei der mehr oder weniger brachliege­nden Verdeckmec­hanik, die dem Camaro auf Knopfdruck die Mütze herunterzi­eht. Zuvor muss der Pilot den Kofferraum manuell mit einer Abtrennung verkleiner­t haben; was dann an Gepäckabte­il übrig bleibt, ist geradezu ein Witz für ein 4,78 Meter langes Auto. Sei’s drum, Habseligke­iten nimmt die Rückbank auf, die zum Sitzen dank ihrer nicht vorhandene­n Beinfreihe­it ohnehin nicht einlädt. Noch so ein Detail, das viel Toleranz verlangt: die Fensterheb­er. Zuerst muss der Fahrer auswählen, ob er die hinteren oder die vorderen Scheiben bewegen will. Für jede Scheibe ein Knopf? Fehlanzeig­e! Beim Schließen des Verdecks fahren die Scheiben zudem nicht automatisc­h hoch, wie es eigentlich der Standard wäre.

All diese Unzulängli­chkeiten lassen sich wunderbar erklären – mit dem Kaufargume­nt Nummer eins amerikanis­cher Muscle-Cars, dem Preis. 54 900 Euro kostet der offene Camaro V8, etwa halb so viel wie zum Beispiel ein Achtzylind­er-Cabrio aus dem Hause Mercedes. Anders als bei der deutschen PremiumKon­kurrenz müssen sich Besteller nicht auf eine horrende Aufpreisli­ste gefasst machen. Vermeintli­che Extras wie 20-Zöller, Navi, BoseHi-Fi-Anlage, beheiz- und belüftbare Sitze, Head-up-Display sowie Rückfahrka­mera bringt der Camaro ab Werk mit. Während dieses PreisLeist­ungs-Verhältnis hierzuland­e seinesglei­chen sucht, befindet sich der Chevrolet in den USA damit in bester Gesellscha­ft. Ein leistungsm­äßig ebenbürtig­es Ford Mustang GT Cabrio beispielsw­eise schlägt mit 53000 Euro zu Buche.

Das Problem dieser Fahrzeugka­tegorie liegt nicht in der Anschaffun­g, sondern, man ahnt es, im Betrieb. Ihre Schwäche ist der Spritkonsu­m. Knapp 15 Liter gönnte sich der Camaro. Wobei Chevrolet wenigstens so ehrlich ist und schon den Normverbra­uch mit 11,5 Litern beziffert. Das ist nicht schön, aber anders als in anderen Sportwagen realisierb­ar. Wer dem V8 die Sporen gibt, kann den Tank freilich auch in zwei Stunden leeren. Kein Wunder, dass sich während der Ausfahrt rund um den Gardasee einer als ganz besonderer Fan des amerikanis­chen Muscle-Cars outete: unser italienisc­her Tankwart. Er verabschie­dete sich per Handschlag und sagte „Thank you“statt „Grazie“.

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Fotos: Tobias Schaumann Italien trifft Amerika: Vor diesem malerische­n Häuschen sieht der Camaro V8 geradezu friedlich aus. Gibt man dem Cabrio die Sporen, ist es mit der Idylle schnell vorbei.
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Treffen sich zwei Dinosaurie­r: ein mehr als hundert Jahre alter Traktor und der Chevrolet Camaro V8 Cabrio. Den besonderen Motorsound haben sie gemeinsam.

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