Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Schüler testen: Wer hilft diesem Kind?
Zivilcourage Am helllichten Tag liegt ein „blutender“Siebtklässler auf dem Gersthofer Rathausplatz. Viele Passanten erschrecken. Was sie nicht wissen: Sie sind Teil eines Versuchs. Das Ergebnis überrascht alle Beteiligten
Gersthofen Tobias liegt auf dem Boden vor dem Gersthofer Rathaus. Ein blutroter Streifen läuft seinen Arm hinunter, er stöhnt und ruft um Hilfe. Manchen Passanten gehen an dem Jungen vorbei, andere beugen sich über ihn, um zu helfen. Doch der Siebtklässler ist nicht verletzt – er ist Teil eines Schülerprojekts zum Thema „Konflikte in der Welt“und „Seinen Nächsten lieben“. Das Ergebnis des Projekts hat alle Beteiligten dann überrascht.
Die rund 15 Mädchen und Jungen der siebten Jahrgangsstufe der Heinrich-von-Buz-Realschule in Augsburg-Oberhausen haben sich im katholischen Religionsunterricht unter anderem mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter befasst. Seminarrektorin Yvonne Paul und ihre Referendarinnen Angelika Nickel, Bettina Lechner, Melissa Mack und Christine Heigemeir wollten die Bibelgeschichte in den Alltag der Schüler übertragen und ihnen zeigen, wie schnell man selbst einen Samariter brauchen kann.
Elisabeth Raunecker von den Johannitern hat Tobias und auch Alex, der sich mit diesem als „Verletzter“abwechselt, täuschend echt geschminkt. Die anderen Schüler befragen dann die Passanten, warum sie geholfen haben – oder nicht.
Inge Heisler hat sich sofort über den Jungen gebeugt und gefragt, was los ist. „Das ist für mich selbstverständlich.“, sagt sie. „Erste Hilfe leisten hätte ich mich jetzt nicht getraut, aber ich wäre sofort ins Rathaus gegangen, um Hilfe herbeizurufen.“Dass ihr die Schüler mit dem „Verletzten“einen großen Schreck eingejagt haben, verzeiht sie ihnen.
Herta Jahnel wiederum sucht sofort nach ihrem Handy, um einen Notruf abzusetzen. „Ich bin zunächst erschrocken. Dass ich mich kümmere, ist selbstverständlich.“Allerdings hat sie der Bub daran erinnert, dass sie ihre Erste-HilfeKenntnisse auffrischen sollte.
Es gibt auch seltsame Begegnungen: „Eine ältere Dame ging zu dem Jungen und sagte: ,Steh auf, reiß dich zusammen, das wird schon wieder‘ “, sagt Christine Heigemeir.
Die Schüler führen in der Stunde, die das Projekt in Gersthofen dau- ert, genau Buch: 34 Passanten helfen. Sie halten es für selbstverständlich. Einer sagt: „Ich würde immer helfen, weil ich möchte, dass auch meinem Sohn, wenn er in so einer Situation wäre, geholfen wird.“
18 haben den „Verletzten“zwar gesehen, helfen aber nicht. Nach ihrem Verhalten befragt, heißt es zum Beispiel „Ich habe nichts gesehen“oder „Ich dachte, er schläft“und „Es haben doch schon andere geholfen“, berichtet Yvonne Paul. Insgesamt 76 Passanten gehen ohne zu schauen vorbei. Die Schüler zeigen bei der Nachbesprechung überrascht, dass vor allem viele junge Menschen am Verletzten vorbeiliefen und vor allem ältere zur Hilfe bereit waren. „Positiv aufgefallen ist mir, dass sogar eine Frau mit Krücken sofort helfen wollte“, sagt ein Schüler.
Auch Yvonne Paul und ihre Kolleginnen erstaunt das positive Ergebnis. „Das wäre in einer Großstadt wie Augsburg wohl ganz anders gewesen“, vermutet die Seminarleiterin. Vor einigen Jahren hat sie solche Schülerprojekte bereits in Augsburg und in Schrobenhausen durchgeführt. „In beiden Fällen gingen rund 50 bis 70 Prozent der Menschen, die den Verletzten gesehen hatten, achtlos vorbei.“
Wie viel Prozent der Menschen in Notfällen helfen oder vorbeigehen, darüber gibt es offenbar keine Statistik. „Unsere Rettungskräfte haben bei Hilfseinsätzen keine Zeit, um Strichlisten zu führen, da geht es um Menschenrettung“, sagt Andreas Nußbaum, der stellvertretende Leiter des Rettungsdiensts beim Rotkreuz-Kreisverband Augsburgsich Land. Ähnliches sagt ADAC-Sprecher Michael Kock: „Im Einsatz ist man mit Wichtigerem beschäftigt.“Beide betonen, dass sich jemand, der bei Unglücken oder gemeiner Gefahr nicht Hilfe leistet, der unterlassenen Hilfeleistung schuldig macht. Nach § 323c des Strafgesetzbuchs stehen darauf Geldstrafen oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Andreas Nußbaum: „Wer kein Blut sehen kann, aber einen Notruf absetzt oder andere Menschen zur Hilfe holt, hat wenigstens etwas geholfen.“