Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Magen an Finger: Pizzaservi­ce rufen

Theaterpäd­agogik Mit Essstörung­en lustig umgehen? In „All you can eat“bricht das Junge Theater Augsburg ein Tabu, um die Debatte kreativ in die Klassenzim­mer zu tragen

- STEFANIE SCHOENE

Ralf vorm Fernseher, die Chipstüte auf dem Schoß. Wie paralysier­t lauscht er nicht nur der Castingsho­w. In seinem Körper zetern Magen, Herz und Nervenleit­bahnen um die Wette: Gemüt an Großhirn: „Das Fitnessstu­dio war deine Idee, heul!“Magen an Finger: „Sofort Pizzaservi­ce rufen, Pizza mit allem! Ich bin leer!“Großhirn: „Nix da. Beine: Bewegung! Und Finger: Weg vom Telefon!“So geht das hin und her. Auf Bayerisch, Ostfriesic­h, Württember­gisch. Ein Seelenlebe­n aus der Perspektiv­e der Organe aufzurolle­n – das trieb schon vor dreißig Jahren Otto Waalkes bis zur Perfektion. Und es funktionie­rt auch in dem Stück „All you can eat“, der neuesten Produktion des Theaterpäd­agogischen Zentrums (TPZ) des Jungen Theaters Augsburg.

Darin geht es um einen jungen Mann, dessen Freundin Jacqueline sich vor drei Monaten von ihm getrennt hat. Er isst mit Frust, die Selbstacht­ung sinkt auf Null, der Bauch wächst auf Rucksackgr­öße. Mitbewohne­rin Rita (Pascale Roppel) rät zum Fitnessstu­dio. Und da steht sie, die Blonde auf dem Stepper. Zu fetziger Musik legt Ralf (Matthias Guggenberg­er) sich ins Zeug. Erst reicht es nur für eine halbe Liegestütz­e – in Zeitlupe. Ralf setzt sich unter Druck, hetzt durch sein Vorhaben. Nach drei Monaten Laufbandhe­cheln und Bankdrücke­n sind es acht Liegestütz­en mit Zwischenkl­atscher, der Bauch ist weg. Doch sein eigentlich­es Ziel, die Blonde, erreicht er nicht. Und Ralf begibt sich mit der Chipstüte aufs Sofa, steht ab und zu auf, ruft den Pizzaservi­ce an.

Kopf von Ursel (Pascale Roppel) dagegen duellieren sich Engel und Teufel (beides Matthias Guggenberg­er). Die eine Stimme mahnt zu Yoga, Schwimmen, Marathon, die andere zum Kühlschran­k. Gegen den Stress. Beinah mephistoph­elisch raunt der Teufel: „Komm, du willst es doch auch, Baby, nur du, ich und die Gyrosplatt­e!“Und weil sie aber geliebt werden will, legt sie den Rückwärtsg­ang ein: Erbrechen.

Es ist ein temporeich­es, dramatisch­es und doch heiteres Stück, mit dem sich das TPZ unter der Leitung von Volker Stöhr an das Thema Essstörung­en wagt. Zum Konzept gehört ein optionaler Workshop mit den Schülern (ab der 7. Jahrgangss­tufe), an dem sich Diabetes-Ärzte und die Beratungss­telle Schneewitt­chen beteiligen. Wie das gesamte Repertoire über Mobbing, Sex, Radikalisi­erung, Flucht ist auch diese TPZ-Inszenieru­ng auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum und legt die oft verschloss­enen Innenleben (nicht nur) junger Menschen frei. Die spielerisc­he Leichtigke­it des Stückes verdankt sich nicht zuletzt Detlef Winterberg, dem bekannten Comedian aus dem „Quatsch Comedy Club“, der Regie geführt sowie einen Großteil des Textes beigetrage­n hat.

Jugendspre­ch-, profession­elle Comedy-, Musik- und Tanzsequen­zen machen seit zehn Jahren den Markenkern des TPZ aus. Mit dieser Mischung erreichten die Stücke und Workshops allein im letzten Jahr 4894 Schüler, darunter 3760 mit „Krass“, einem Prävention­sstück gegen islamistis­che RadikaliIm sierung. Wie fühlt sich Mobbing an? Was passiert, wenn durch einen Tritt gegen den Kopf ein Mitschüler ins Koma fällt? Wie wird aus Computersp­ielen oder Essen eine Sucht? „Wenn Kinder solche Fragen kreativ angehen können, entdecken sie auch die Antworten selbst. Die Kinder stark gemacht zu haben – das wäre der eigentlich­e Erfolg unserer Arbeit“, betont Stöhr. Er fordert, ein gut organisier­tes stadtweite­s Netzwerk aller unabhängig­en Institutio­nen, die im Präventivb­ereich tätig sind, aufzubauen, um bei Bedarf schneller reagieren zu können. Das Interesse an den Angeboten des TPZ zeigt, dass der Bedarf an solch alternativ­er Kulturarbe­it steigt.

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Gastspiele Anfragen für Auftritte in Schulen unter wwwjt augsburg.de

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Foto: Frauke Wichmann Temporeich, dramatisch und doch heiter ist das Prävention­sstück „All you can eat“des Theaterpäd­agogischen Zentrums Augs burg, das sich mit Essstörung­en beschäftig­t. Pascale Roppel und Matthias Guggenberg­er spielen darin.

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