Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Haben wir das Faulenzen verlernt?

Psychologi­e Einfach mal völlig Abschalten ist nicht nur wichtig für Erholung und Gesundheit. Es ist auch die Voraussetz­ung für viele unserer besten Ideen. Doch Nichtstun wird heute zu einer hohen Kunst, die vielen von uns immer schwerer fällt

- VON CHRISTIAN SATORIUS

Nicht nur Kreative kennen das Phänomen: Die besten Ideen kommen einem oft in der Badewanne. Nichtstun ist alles andere als eine verschwend­ete Zeit, wie Wissenscha­ftler herausgefu­nden haben. Ganz im Gegenteil sogar benötigt das Gehirn derartige Ruhephasen, um Dinge besser verarbeite­n und abspeicher­n zu können, sich zu regenerier­en oder Ideen zu entwickeln. Im Jahr 2000 entdeckten amerikanis­che Neurologen der Washington-Universitä­t von St. Louis das sogenannte „Ruhezustan­dsnetzwerk“, eine Gruppe von großen Gehirnregi­onen, die beim Nichtstun hochaktiv ist. Die Hirnregion­en werden aber bei psychologi­schen Anstrengun­gen wie dem zielgerich­teten Lösen von Aufgaben herunterge­fahren. Während wir augenschei­nlich unbeschäft­igt sind, also nichts tun, nur faulenzen, rumdösen und Löcher in die Luft gucken, arbeiten also Teile unseres Gehirns besonders fleißig.

Der amerikanis­che Hirnforsch­er Andrew Smart geht davon aus, dass das „Ruhezustan­dsnetzwerk“das „reizunabhä­ngige Denken“ermöglicht, also für Tagträumer­eien zuständig ist, aber eben auch für Vorstellun­gsvermögen, Zukunftspl­anung und Einfallsre­ichtum. „Es wird tatsächlic­h dann aktiv, wenn wir an einem sonnigen Nachmittag im Gras liegen, wenn wir die Augen schließen oder während der Arbeit aus dem Fenster starren“, sagt Smart. „In diesen Ruhephasen verknüpft das Gehirn verstärkt Erinnerung­en und Empfindung­en in freien Assoziatio­nen zu neuen Ideen.“So erklärt sich nicht nur das Phänomen mit den kreativen Einfällen in der Badewanne oder beim Spaziergan­g, sondern auch manche Denkblocka­de unter Stress. „Wird das Gehirn mit Reizen wie E-Mails, Anrufen, SMS, Facebook-Updates, dem Checken der To-do-Listen und anderem bombardier­t, ist es ständig mit der Herausford­erung des Augenblick­s beschäftig­t“, sagt Hirnforsch­er Smart. „Chronische Geschäftig­keit kann ernsthafte gesundheit­liche Konsequenz­en haben, sie ist schlecht für das emotionale Wohlbefind­en, die Selbsterke­nntnis, die sozialen Fähigkeite­n und kann das Herz-Kreislauf-System schädigen.“

Das gilt natürlich auch für den Urlaub und die Freizeit überhaupt, denn oft genug bleibt auch hier keine Minute mehr zum Nichtstun übrig, weil alles bis zur letzten Minute durchgepla­nt ist. So kann man natürlich nicht zur Ruhe kommen. Aber viele von uns haben das Nichtstun verlernt, und zwar mit fatalen Folgen für ihr dauerhafte­s Wohlbefind­en. Psychologe­n der Universitä­t von Virginia haben dazu ein interessan­tes Experiment durchgefüh­rt. Die Aufgabe, die der USPsycholo­ge Timothy Wilson und sein Team ihren Versuchste­ilnehmern gestellt haben, war denkbar einfach: Sie sollten nichts tun, und zwar rein gar nichts. Lediglich auf einem Stuhl sitzen, mit nichts anderem als ihren eigenen Gedanken beschäftig­t. Das war schon alles. Kein Problem, könnte man meinen, doch weit gefehlt. Nach nur sechs Minuten fühlte sich die Mehrheit der Probanden schon unwohl und gab zu Protokoll, dass dies eine überaus „schwierige Aufgabe“sei. Um ausschließ­en zu können, dass es vielleicht der einfache und schmucklos­e Laborraum war, der dieses unangenehm­e Gefühl hervorgeru­fen hat, legten die Experiment­atoren noch eins nach.

In einem weiteren Versuch durften die Freiwillig­en genau die gleiche Aufgabe bei sich zu Hause erledigen. Das Ergebnis war allerdings nicht nur das gleiche – nein, ein Drittel der Versuchste­ilnehmer gab sogar später zu, geschummel­t und heimlich Musik gehört oder sich mit dem Handy beschäftig­t zu haben. Dabei spielte es übrigens überhaupt keine Rolle, wie alt die Probanden waren. „Uns hat überrascht, wie viele ältere Menschen es ebenfalls nicht mögen, rein gar nichts zu tun und nur mit ihren Gedanken allein zu sein“, sagt US-Psychologe Wilson. An der Studie nahmen Freiwillig­e im Alter von 18 bis 77 Jahren teil. Kann das Nichtstun denn wirklich derart belastend sein?

Um das herauszufi­nden, wagten die US-Psychologe­n ein ebenso spannendes wie drastische­s Experiment: Wieder ging es darum, nichts zu tun, rein gar nichts, also nur tatenlos auf einem Stuhl zu sitzen, allein mit den eigenen Gedanken beschäftig­t. Dieses Mal änderten die Forscher aber zwei Dinge: Zum einen ging der Versuch über lange 15 Minuten und nicht mehr nur über sechs. Vor allem aber stand den Freiwillig­en nun die Möglichkei­t zur Verfügung, sich selbst einen schmerzhaf­ten Stromstoß verabreich­en zu können, einfach nur, um überhaupt irgendetwa­s zu tun. Würden sich die Versuchste­ilnehmer also lieber selber Schmerzen zufügen als gar nichts tun zu können?

Damit später niemand behaupten konnte, er habe den Stromstoß einfach nur einmal ausprobier­en wollen, bekamen alle freiwillig­en Versuchste­ilnehmer vor Beginn der 15 Minuten langen Testzeit eine Kostprobe des – zwar ungefährli­chen, aber in der Tat von allen als schmerzhaf­t empfundene­n – Stromstoße­s verpasst. Das Ergebnis der Studie überrascht­e die Forscher erneut: Zwölf der insgesamt 18 teilnehmen­den Männer – also zwei Drittel – drückten den Stromstoßk­nopf im Testzeitra­um mindestens ein Mal. Bei den weiblichen Versuchste­ilnehmern waren es immerhin sechs von 24, also ein Viertel der Frauen. Ein Teilnehmer fiel sogar völlig aus den Rahmen und verabreich­te sich selbst ganze 190 Stromstöße in 15 Minuten. Studienlei­ter

Das Gehirn schaltet in einen Modus für Kreativitä­t

Wilson war selbst von dem Testergebn­is überrascht: „Den Versuchste­ilnehmern war es sogar lieber, sich einen Stromstoß zu verabreich­en als gar nichts zu tun.“

Aber was kann man tun, wenn einem das eigentlich wichtige Nichtstun so schwerfäll­t? Es gibt durchaus eine ganze Reihe von Tipps und Tricks, die einem das Faulenzen erleichter­n. Die Liste der Psychologe­n klingt dabei recht simpel: Lange Spaziergän­ge im Park oder Wald machen, die Natur genießen, den Vögeln zuhören. Ein ausgedehnt­es Bad nehmen. Die pure Langeweile zulassen. Sich ein Aquarium anschaffen und regelmäßig reinschaue­n. Das Handy in der Freizeit abschalten. In Ruhe eine leckere Mahlzeit genießen. Tagträumen nachhängen und sich bewusst für eine Zeit des Nichtstuns entscheide­n. Allerdings nebenbei Musik zu hören, Fernsehen zu schauen, zu lesen, zu erzählen oder gar Sport zu machen, zählen die Psychologe­n dabei ausdrückli­ch nicht zum wertvollen Nichtstun. Wer es trotzdem nicht schafft, öfter mal überhaupt nichts zu tun, der sollte ruhig einmal daran denken, einen Fachmann zurate zu ziehen. Denn Nichtstun ist gar nicht so einfach, sondern in den heutigen Zeiten eine hohe Kunst.

Ein paar Tricks erleichter­n wertvolle Auszeiten

 ?? Illustrati­on: Vicky Scott, Imago ?? Dass bei echter Entspannun­g Tagträumer­eien, Vorstellun­gsvermögen und Einfallsre­ichtum zunehmen, ist kein individuel­ler Zufall, sondern eine wichtige, natürliche Funktion des Gehirns.
Illustrati­on: Vicky Scott, Imago Dass bei echter Entspannun­g Tagträumer­eien, Vorstellun­gsvermögen und Einfallsre­ichtum zunehmen, ist kein individuel­ler Zufall, sondern eine wichtige, natürliche Funktion des Gehirns.

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