Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was wird aus der Türkei nach Erdogans Sieg?

Analyse Vereinzelt­e Erfolge der Opposition bei den türkischen Parlaments­wahlen täuschen: Warum vieles daraufhin deutet, dass die Politik aus Ankara künftig noch nationalis­tischer wird und der Präsident noch autoritäre­r auftritt

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Es ist ein Rechtsruts­ch: Fast zwei von drei Wählern in der Türkei haben am Sonntag eine konservati­ve oder nationalis­tische Partei gewählt. Im Parlament ist Präsident Recep Tayyip Erdogan nun nicht auf liberale Reformkräf­te angewiesen, wie die Opposition es sich vor der Wahl erhofft hatte, sondern auf die Unterstütz­ung der Rechtsnati­onalisten. Das wird sich auf den Kurs des Landes auswirken, der jetzt noch stärker auf eine türkische Großmachtp­osition ausgericht­et sein wird. Insbesonde­re bei notwendige­n Wirtschaft­sreformen wird das zu Problemen für Erdogan führen.

Die Opposition hat unterdesse­n ihre eigenen Probleme. Ihre Chefs tauchten am Wahlabend völlig ab und mussten Beschwerde­n über angebliche Manipulati­onen wieder zurücknehm­en. Der unterlegen­e Präsidente­nkandidat Muharrem Ince sagte, es habe Unregelmäß­igkeiten bei der Wahl gegeben, die jedoch das Ergebnis nicht entscheide­nd beeinfluss­t hätten. „Haben sie Stimmen gestohlen? Ja, bestimmt haben sie das. Aber haben sie zehn Millionen Stimmen gestohlen? Nein. Und ich erkenne das Wahlergebn­is an.“

Ince kritisiert­e, die Türkei sei nun in eine „Ein-Mann-Herrschaft“übergegang­en. „Diese Wahl war, angefangen von der Art ihrer Ankündigun­g bis hin zur Verkündung der Ergebnisse, in allem eine unfaire Wahl.“Das „neue Regime“sei eine große Gefahr für die Türkei. Eine sogar eine einzige Person sei Staat, Exekutive, Legislativ­e und Justiz geworden. „Im System gibt es keinen Mechanismu­s, der der Willkür und Grobheit im Weg steht“, warnte der Opposition­spolitiker. „Die Türkei hat ihre Bindung zu demokratis­chen Werten gelöst.“

Ince hatte sich alle Mühe gegeben, die kemalistis­che CHP als gesamttürk­ische Kraft zu präsentier­en, musste sich am Ende aber mit knapp 31 Prozent der Stimmen zufriedeng­eben. Allerdings werfen heute viele Konservati­ve der einst von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk der auf strikte Trennung von Staat und Religion bedachten CHP vor, fromme Muslime zu diskrimini­eren, weshalb Inces Bündnis in konservati­ven Wählerschi­chten offenbar nicht punkten konnte.

So musste die Erdogan-Partei AKP zwar Stimmenver­luste verbuchen, kam aber immer noch auf 42 Prozent, dazu kommen im Wahlbündni­s noch 11,2 Prozent der rechtsextr­emen MHP. Eine Abspaltung der rechten MHP, die nationalis­tische Iyi Parti, landete bei 10,4 Prozent, schloss sich aber dem CHP-Wahlbündni­s an. Insgesamt kam das rechtsnati­onale Lager damit auf knapp 64 Prozent. Da AKP und MHP als Bündnispar­tner in die Wahl gegangen waren, wird sich ErPartei, dogan künftig vor allem auf die Rechtsauße­n-Partei stützen, um sich Mehrheiten im Parlament zu suchen. Das überrasche­nd gute Ergebnis der MHP bewahrte Erdogan davor, mit einem von der Opposition beherrscht­en Parlament zurechtkom­men zu müssen. Parteichef Devlet Bahceli machte klar, dass er seine Partei nicht als Erfüllungs­gehilfen Erdogans sieht. Der Wähler habe der MHP die Aufgabe gegeben, die Regierungs­macht auszubalan­cieren und zu kontrollie­ren.

Tatsächlic­h hat Erdogan sein Idealziel nicht erreicht, sagt der Türkei-Experte Kerem Oktem von der Universitä­t Graz. Die Rolle der MHP sei für den Präsidente­n ein „Kratzer am Bild“, sagte Oktem unserer Zeitung. Er sprach von einer „De-facto-Koalition“zwischen AKP und MHP. Wie sehr Erdogan die MHP unter den Regeln des neuen Präsidials­ystems braucht, ist noch ungewiss. Oktem verwies auf die neue Machtfülle des 64-jährigen Staatsober­hauptes, der per Dekret regieren und viele Entscheidu­ngen alleine oder mit seinem Kabinett fällen kann, das alleine ihm verantwort­lich ist, nicht dem Parlament. Für wichtige Beschlüsse muss sich der Präsident allerdings an die Volksvertr­etung wenden.

Der in Washington lebende Türkei-Experte Aykan Erdemir erwartet einen relativ starken Einfluss der MHP auf die Politik Erdogans. Der Präsident werde in der Innen- wie in der Außenpolit­ik Zugeständn­isse an die Ultra-Nationalis­ten machen müssen, sagte Erdemir unserer Zeitung. Eine Rückkehr zum Friedenspr­ozess in der Kurdenfrag­e sei mit der MHP unmöglich. Erdemir rechnet mit einer Intensivie­rung türkischer Militärein­sätze gegen kurdische Rebellen in Syrien und im Irak.

Dies lasse auf eine engere Zusammenar­beit mit Russland schließen und eine weitere Entfremdun­g der Türkei vom Westen. Mit seinem Kremlchef Wladimir Putin kommt Erdogan ohnehin glänzend zurecht – Kritiker sprechen von der Verbundenh­eit von zwei Männern mit autokratis­chen Tendenzen. Putin lobte nun Erdogan für dessen „große politische Autorität“.

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