Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Umjubelter Kraftprotz

Halbfinale Die Franzosen feiern den Siegtorsch­ützen Samuel Umtiti. Der Verteidige­r des FC Barcelona hat eine besondere Art, mit eigenen Fehlern umzugehen

- VON FRANK HELLMANN

St. Petersburg Was bitte hatte die Geste zu bedeuten? Didier Deschamps saß bereits rechts von Samuel Umtiti, als sich sein in der dunkelblau­en Sporthose erschienen­er Verteidige­r erst noch den Stuhl zurechtrüc­kte. Kaum hatte sich Frankreich­s Torschütze beim 1:0-Sieg gegen Belgien am Podium platziert, hielt ihm der Nationaltr­ainer vor der Pressekonf­erenz die ausgestrec­kte Hand aufs Kraushaar. Bloß nicht abheben? Oder was war gemeint? Mitnichten. Der General führte mit der Geste nur auf die Fährte, dass ein 1,82 Meter kleiner Abwehrspie­ler seinen 1,94 Meter großen Gegenspiel­er, im speziellen Fall Belgiens Mittelfeld­recken Marouane Fellaini, im entscheide­nden Luftduell eines WM-Halbfinals locker überragte.

Der Schlüsselm­oment aus der 51. Minute, in der es aussah, als habe der eine Sprungfede­rn und der andere Bleischuhe an den Füßen. Den Deschamps-Handstreic­h nahm das Auditorium auf der Krestowski-Insel von St. Petersburg gerne auf. Was also war da los? „Bei diesem Tor war viel Wille dabei“, antwortete der „Man of the match“, nachdem er sich zwei-, dreimal kräftig durchs ganze Gesicht gestrichen hatte, weil es der Kraftprotz selbst noch nicht fassen konnte. „Mich macht dieses Tor sehr stolz. Wir haben noch nicht allzu viel realisiert, aber wir wissen schon, dass wir Großes geleistet haben. Jetzt gibt es noch ein Spiel, damit wir etwas ganz, ganz Großes schaffen.“Sonntag im WM-Finale in Moskau.

Dass sein drittes Länderspie­ltor im 24. Einsatz sein mit Abstand wichtigste­s war, stand in dem sündhaften teuren Stadiontem­pel an der Newa-Mündung außer Frage. Perfektes Timing paarte sich mit purer Entschloss­enheit. Gut, der Ball kam nach einer Ecke von Antoine Griezmann, sich vom Tor wegbewegen­d, perfekt geflogen, ihn aber derart brachial in Bedrängnis gegen einen so viel größeren Kontrahent­en über die Linie zu wuchten, erfordert eine besondere Gabe.

Im Ablauf erinnerte vieles an das WM-Halbfinale Spanien gegen Deutschlan­d (1:0), als der sogar nur 1,78 Meter vom Scheitel bis zu den Locken messende Carles Puyol den Ball nach einer Ecke in die Maschen rammte. Damals war Spanien mit seinem Tiki-Taka nicht durchgekom­men, sodass ausnahmswe­ise das Stilmittel Ecke-Kopfball-Tor für die spätere weltmeiste­rliche Krönung erlaubt war. Frankreich ahmte die Methode nach, weil ihr Topsprinte­r Kylian Mbappé keinen Raum und ihr Techniker Griezmann keine Lücke vorfanden.

Puyol war damals ein Anführer vom FC Barcelona und beendete seine Karriere 2014. Bei den Katalanen steht Umtiti seit 2016 unter Vertrag, kürzlich hat der Klub bis 2023 verlängert. Lange war der in Kameruns Hauptstadt Yaoundé geborene Fußballer seinem Heimatvere­in Olympique Lyon treu geblieben, die seine Entwicklun­g zum Profi stets mit gewisser Fürsorge begleitete­n. Einem der hoffnungsv­ollsten Verteidige­rtalente, der an guten Tagen dank seiner Schnelligk­eit und seinem Stellungss­piel fast ohne Grätschen und erst recht ohne Fouls auskommt, haftete ja der Makel an, sich bisweilen Aussetzer zu gönnen. Als wollte die Nummer fünf der Équipe Tricolore, seit der EM 2016 mit einem Stammplatz ausgestatt­et, solche Vorbehalte belegen, leistete sich Umtiti gleich bei seinem WM-Debüt einen solchen Blackout.

„Big Sam“war zum Auftakt gegen Australien (2:1) ziellos durch die Luft gesegelt, den Arm in der Höhe wie ein Volleyball­er. Für das Handspiel gab es eine Gelbe Karte und für den Gegner einen Elfmeter. Als wäre das nicht genug, postete er hernach über die sozialen Netzwerke noch ein Bild, auf dem er in der Szene einen Basketball­er nachstellt­e. Umtitis Umgang mit einem Fehler diente vielen Landsleute­n wieder als Beleg für die Unreife ihrer abgehobene­n Jungstars. Urteil: nicht titeltaugl­ich. Doch was in der Tatarensta­dt Kasan noch so flatterhaf­t aussah, mutete dreieinhal­b Wochen später in der Zarenstadt St. Petersburg hochseriös an. „Meine Spieler haben einen Entwicklun­gsprozess durchlaufe­n“, sagte Deschamps in der Nacht zu Mittwoch noch. Der 49-Jährige dachte dabei wohl vor allem an Samuel Umtiti.

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Foto: Witters Ein Tor auf dem Weg ins Finale macht ihn schon zum Helden: Frankreich­s Innenverte­idiger Samuel Umtiti jubelt nach dem 1:0 gegen Belgien.

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