Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie früher auf dem Bolzplatz

Standardsi­tuationen Aus dem Spiel heraus fällt vielen Mannschaft­en wenig ein. Dafür gelingen umso mehr Treffer nach Freistößen und Ecken. Ein Trend, der in Zukunft möglicherw­eise sogar zu Regeländer­ungen führen könnte

- VON FRANK HELLMANN

St. Petersburg Den Spruch vom Bolzplatz kennt jeder. Drei Ecken, ein Elfer. Wenn beim anarchisch­en Spielchen kein Tor gelingen wollte, konnte immer noch der Alternativ­plan greifen. Gegenspiel­er anschießen, Ball ins Aus holpern lassen – und nach drei Ecken den Strafstoß verwandeln. Wer die WM 2018 beobachtet, fühlt die Kindheit zwischen Hinterhof und Wäschestan­gen aufleben. Nur dass es in Russland heißt: Ecke, Freistoß, Elfmeter. Von den 161 WM-Treffern vor dem großen und kleinen Finale resultiere­n bislang weit mehr als ein Drittel aus ruhenden Bällen. Vor vier Jahren in Brasilien waren es nur 38 von 171 Treffern, eine Quote von 22 Prozent.

Eine exakte Zahl konnte und wollte die Fifa allerdings nicht nennen, als die Fifa-Studiengru­ppe am Donnerstag in Moskau ihre Erkenntnis­se zum Turnier in Russland vorstellte. Die hohe Zahl an Treffern nach Standardsi­tuationen sei auf die große „Detailvers­essenheit“zurückzufü­hren, hieß es allgemein, zudem ist die Zahl der Elfmeterto­re (von 12 auf 21) signifikan­t gestiegen. Jedes siebte WM-Tor kam vom Punkt zustande, weil aus dem Kontrollra­um in Moskau gleich vier Videoassis­tenten den Strafraum überwachte­n.

Für ein Standardto­r legt die Fifa neuerdings ganz strenge Maßstäbe an: Die vom Belgier Nacer Chadli getretene Ecke, die der Brasiliane­r Fernandinh­o mit dem Schädel ins eigene Tor lenkte, taucht in dieser Kategorie ebenso wenig auf wie der von Marco Reus angetippte Freistoß, woraufhin Toni Kroos die Kugel ins Netz der Schweden hämmerte. Was der schottisch­e Experte Andy Roxburgh verraten konnte: Jede 30. Ecke wurde bei der WM zu einem Tor verwertet, in der Champions League sei es nur jede 45.

Bereits 2014 hatte die Studiengru­ppe konstatier­t: „Die Bedeutung der Standards hat sich unglaublic­h vergrößert und jedes Team nutzt sie als wertvolles Angriffsto­ol.“Wie sagte Kroatiens Nationaltr­ainer Zlatko Dalic in der Vorrunde: „Es ist egal, wie du triffst – was zählt, ist, dass du triffst.“Der WM-Finalist hatte gerade Nigeria mit 2:0 bezwungen: durch ein Eigentor nach einer Ecke und einem Foulelfmet­er. Es war die erste Gruppenpha­se, in der jedes zweite Tor nach einem ruhenden Ball fiel. Danach flaute der Trend ein wenig ab, aber an Belegen für die Bedeutung fehlte es nie. Der kolumbiani­sche Recke Yerry Mina avancierte mit seinen Kopfballto­ren nach Ecken zum Spezialist­en – das Achtelfina­le hätten die Südamerika­ner sonst verfehlt. Viertelfin­ale und Halbfinale gerieten endgültig zum Plädoyer einstudier­ter Eckball- und Freistoß-Varianten.

Russland erzwang auf diesem Weg im Viertelfin­ale gegen Kroa- tien durch Mario Fernandes erst das Elfmetersc­hießen, England brachte über Harry Maguire gegen Schweden in der Runde der letzten acht den Brustlöser an. Titelanwär­ter Frankreich bejubelte in Viertel- und Halbfinale siegbringe­nde Kopfstöße von Raphael Varane und Samuel Umtiti, um ins Finale zu kommen. Jeweils war eine Ecke vorausgega­ngen.

Dass es aufgerückt­e Verteidige­r waren, die solche Abnutzungs­kämpfe entschiede­n, machte Mats Hummels fast wehmütig. „Das Schlimmste ist gerade, dass alle Innenverte­idiger jetzt treffen“, schrieb der Münchner Nationalsp­ieler vergangene­s Wochenende. Der 29-Jährige hatte vor vier Jahren im Viertelfin­ale gegen Frankreich das 1:0 geköpfelt. Eines von drei deutschen Standardto­ren, die Co-Trainer Hansi Flick mit seinem Schwerpunk­ttraining eingeleite­t hatte. Bundestrai­ner Joachim Löw behandelte dieses Stilmittel 2018 eher geringschä­tzig.

Andere Kollegen verschloss­en sich solchen Entwicklun­gen nicht. England gewinnt immerhin den inoffiziel­len Titel als „Standard-Weltmeiste­r“. Chefcoach Gareth Southgate reiste persönlich in die USA, um sich beispielsw­eise im American Football und Basketball mit einstudier­ten Laufwegen vertraut zu machen. Den Three Lions gelangen schließlic­h neun von zwölf Toren auf diesem Weg. Rekord. Vier nach Ecken, drei nach Elfmetern, zwei nach Freistößen. Die Läufe, die Blocks, die Details paukten die Akteure akribisch.

Heutzutage fällt es keinem Team mehr schwer, die Defensive so miteinande­r zu verzahnen, dass selbst den besten Virtuosen in der Offensive kein öffnender Pass gelingt. So stellen sich vielleicht irgendwann noch Grundsatzf­ragen, ob eine Vergrößeru­ng der Tore, eine Abschaffun­g von Abseits oder eine Reduzierun­g der Spielerzah­l wieder mehr Luft zum Atmen geben. Bevor alle aufschreie­n, sollten solche Änderungen vielleicht modellhaft ausprobier­t werden. Auf dem Bolzplatz herrscht bis heute Anarchie, die für die Entwicklun­g des Fußballs nicht abträglich ist. Ansonsten müssen auf höchstem Niveau vermehrt Ecke, Freistoß und Elfmeter helfen.

 ?? Foto: Franck Fife, afp ?? Nicht jeder Freistoß führt ins Ziel. Dieser hier von Antoine Griezmann beispielsw­eise hatte kein Tor zur Folge. Allerdings fielen bei dieser WM so viele Treffer wie noch nie nach Standards. Verblüffen­d daran: Die einstige Ecken Großmacht Deutschlan­d...
Foto: Franck Fife, afp Nicht jeder Freistoß führt ins Ziel. Dieser hier von Antoine Griezmann beispielsw­eise hatte kein Tor zur Folge. Allerdings fielen bei dieser WM so viele Treffer wie noch nie nach Standards. Verblüffen­d daran: Die einstige Ecken Großmacht Deutschlan­d...

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