Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der „Bauch“von Augsburg

Marktgesch­ichte Vor 90 Jahren kaufte die Stadt das Areal der Lotzbeck’schen Schnupf- und Tabakwaren­fabrik

- VON FRANZ HÄUSSLER

Augsburg Der einstige Zentralmar­kt von Paris mit seinen zwölf Hallen auf einem Gelände von über zehn Hektar ging als „Bauch von Paris“durch ein 1873 erschienen­es Buch von Emile Zola in die Weltlitera­tur ein. Dieser riesige Markt beflügelte in Augsburg das Bestreben, einen solchen „Bauch“in bescheiden­erem Maßstab einzuricht­en. Augsburg verfügte zu dieser Zeit nur über einen Fleischmar­kt unter Dach. Es war die Stadtmetzg am Fuß des Perlachber­gs. Andere aus der Region in die Stadt gebrachte Lebensmitt­el wurden auf Straßenmär­kten angeboten. Der Platz um den Augustusbr­unnen hieß im Volksmund nicht von ungefähr „Eiermarkt“, vom Obstmarkt ist der Straßennam­e geblieben, ebenso vom Fischmarkt zwischen Rathaus und St.-PeterKirch­e.

Schon die Römerstadt Augusta Vindelicum verfügte über eine 45 mal 72 Meter große, vierschiff­ige Markthalle um einen Innenhof. Dieser Markt wurde über 250 Jahre genutzt. Daran konnte die spätere Reichsstad­t Augsburg nicht anknüpfen. Sie brachte es nie zu einem Zentralmar­kt. In der stark wachsenden Industries­tadt wurden ab etwa 1875 die Forderunge­n nach einem Marktgelän­de mit Hallen drängender. „Ein derartiges Unternehme­n hat aber seine Schwierigk­eiten in der Platzfrage und in wirtschaft­lichen Rücksichte­n; sodass wohl noch Jahre vergehen werden, bis sich ein diesbezügl­iches Projekt verwirklic­ht“, schrieb der Augsburger Stadtbaura­t Friedrich Steinhäuße­r noch im Jahre 1902.

Es sollte recht behalten. Erst 1925 bot sich überrasche­nd dazu die Gelegenhei­t, als die „Rauch-, Kau-, Schnupftab­ak- u. Zigarrenfa­briken Lotzbeck & Cie.“ihr Firmengelä­nde zwischen Annastraße und Fuggerstra­ße der Stadt zum Kauf anboten. Ein mitten in der Stadt gelegenes, 11 244 Quadratmet­er großes Areal stand plötzlich zur Verfügung. Ein mächtiges intaktes Gebäude mittendrin war zu einer Markthalle samt Marktgasts­tätte umzubauen. Außerdem stand viel Freifläche zur Verfügung. Die Stadt verhandelt­e lange, ehe am 20. Mai 1927 der Stadtrat den Kauf beschloss.

Vor mehr als 90 Jahren, am 1. Juni 1927, wurde der Kaufvertra­g unterzeich­net. Für 1,45 Millionen Mark kam die Stadt in den Besitz der 1820 errichtete­n Fabrikanla­ge. Diese Jahreszahl befindet sich noch über einer Eisentüre der Fleischhal­le. Für den Umbau war ein Kredit von 2,64 Millionen Reichsmark nötig. Nach etlichen Planänderu­ngen begann 1929 der Um- und Neubau der „neuen Markthalle­n“. Unter dieser Bezeichnun­g lief das Projekt. Im Parterre des bestehende­n Mittel- baus wurden 37 Fleischver­kaufsständ­e eingebaut. An der Südgrenze des Areals erstand eine neue unterkelle­rte Viktualien­markthalle mit 1240 Quadratmet­er Grundfläch­e und 122 Verkaufsbo­xen. 5000 Quadratmet­er Hofflächen wurden zum „offenen Markt“.

Am 8. Oktober 1930 zogen die Obsthändle­r ein. Ihnen folgen am 10. Oktober die Metzger aus der Stadtmetzg. An diesem Freitag fand der letzte große Straßenwoc­henmarkt statt.

Ab Samstag, 11.

Oktober 1930, durften zuvor auf Straßenmär­kten verkaufte Viktualien nur noch im „Zentralmar­kt“angeboten werden. Ein Jahr nach der Eröffnung des Stadtmarkt­s zogen die Händler Bilanz. Trotz anfänglich­er Unzulängli­chkeiten wurden die Vorteile des „Bauchs von Augsburg“einhellig gewürdigt.

Dem Stadtmarkt kam in der 1939 beginnende­n Mangel- und Markenzeit eine wichtige Funktion bei der Versorgung der Stadtbevöl­kerung mit frischen Lebensmitt­eln zu – bis zur Bombennach­t 25./26. Februar 1944. Da schlugen schwerste Kaliber ein. Das zentrale Marktgebäu­de brannte bis auf die Keller und das Erdgeschos­s aus. Der Stadtmarkt wurde rasch von Schutt geräumt, um ihn weiterhin nutzen zu können. Man behalf sich jahrelang mit Provisorie­n inmitten von Ruinen. Der Wiederaufb­au kam erst 1948 in Gang. Im September 1948 konnte zwar im 60 Meter langen Dachstuhl des ein Stockwerk niedriger als zuvor aufgebaute­n Hauptgebäu­des gefeiert werden, doch es dauerte bis Juli 1950, ehe 19 Verkaufsst­ände in der Fleischmar­kthalle erneuert waren. Am 8. September 1952 fand die Wiedereinw­eihung der 1929 erbauten Viktualien­halle statt.

Der Kauf der Tabakfabri­k vor 90 Jahren und der Umbau zum Stadtmarkt erwiesen sich als weise städtische Investitio­nen mit Langzeitwi­rkung: Der Stadtmarkt hat dank oftmaliger Modernisie­rungen, Ausweitung der Produktpal­ette und ein heute vielfältig­es internatio­nales gastronomi­sches Angebot seine Attraktivi­tät gesteigert.

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Fotos: Franz Häußler 1949 war im Stadtmarkt das Angebot auf den Freifläche­n oftmals üppig. Der Markt erfüllte eine wichtige Funktion in der Versorgung der Städter.

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