Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Hass noch über den Tod hinaus
Wie die Türkei Gülens Anhänger verfolgt
Ankara Verzweifelte Menschen vertrauen sich und ihre Kinder einem Schlauchboot an, um über die Ägäis aus der Türkei zu flüchten – doch das Boot kentert, und sechs Menschen ertrinken, darunter drei Kleinkinder. Die Flüchtlinge waren türkische Staatsbürger, die als Anhänger des mutmaßlichen Putschisten Fethullah Gülen verfolgt wurden. Ihr Tod wird nun auf beiden Seiten des politischen Grabens in der Türkei gnadenlos ausgeschlachtet. Regierungsnahe Medien bezeichnen die Flüchtlinge – einschließlich der Kleinkinder – als Terroristen. Gülen-Anhänger melden in ihren Medien, die türkische Regierung töte Kinder. Auf der Strecke bleibt in der PropagandaSchlacht die Trauer um die Toten.
Insgesamt saßen 16 Menschen in dem Schlauchboot, das am Samstagabend im nordwesttürkischen Ayvalik zu Wasser gelassen wurde. Drei kleine Kinder, zwei Frauen und ein Mann ertranken, ein weiterer Flüchtling wird vermisst. Neun Flüchtlinge wurden von der türkischen Küstenwache gerettet und anschließend festgenommen. Einer der Überlebenden ist laut Medienberichten der Ehemann einer Nichte von Gülen und wurde seit Jahren gesucht.
Der 77-jährige Fethullah Gülen wird von Ankara für den Putschversuch von 2016 verantwortlich gemacht. Rund 160000 Menschen sind in den vergangenen Jahren wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der „Terror-Organisation der Fethullah-Anhänger“– kurz Fetö genannt – aus dem Staatsdienst entfernt worden, weitere 160000 wurden nach UN-Angaben festgenommen. Einmal als Gülen-Anhänger gebrandmarkt, finden viele Betroffene keine Arbeit mehr; zudem werden ihre Pässe eingezogen, um sie an der Ausreise zu hindern.
Auch die Opfer von Ayvalik sahen offenbar keinen anderen Ausweg mehr als die gefährliche Überfahrt nach Lesbos. Über den Tod hinaus werden sie in den regierungstreuen Medien als Staatsfeinde beschimpft: „Boot mit Mitgliedern der Terrororganisation Fetö gekentert“, titelte die Erdogan-treue Zeitung Sabah.
Gülen-Anhänger beschreiben die Todesfahrt in der Ägäis dagegen als Folge der Brutalität der Regierungspolitik. „Das Erdogan-Regime tötet weiter seine eigenen Kinder“, schrieb der im Exil lebende Gülen-nahe Journalist Abdullah Bozkurt auf Twitter. Ankara zwinge türkische Staatsbürger dazu, „ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Unterdrückung und Grausamkeit zu entfliehen“.