Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Und täglich grüßt das Flugchaos

Reisen Die Sicherheit­spanne vergangene­n Samstag am Münchner Airport war nur die Spitze des Eisbergs. Wer in diesem Jahr den Flieger nimmt, erlebt noch viel mehr Ungemach. Eine Geschichte über Urlauberma­ssen, Preiskämpf­e, Frust in Reisebüros und kuriose En

- VON DORIS WEGNER UND DAVID SPECHT

München Von wegen Leichtigke­it des Reisens. Von wegen „Geträumt, gebucht, erlebt“, wie es im Werbespruc­h der Lufthansa heißt. „Von den Ausfällen her ...“Karsten Luckow hält kurz inne und vollendet dann den Satz: „Es ist schlimmer geworden.“Seine Familie, die es nicht in den Spanien-Urlaub geschafft hat. Die Schweizer Kollegen, die die Heimreise erst Stunden später und von einem anderen Flughafen antreten konnten. Er könnte die Liste fortführen, eine Liste voller Enttäuschu­ngen, Ärger und Ratlosigke­it.

Luckow, kahl geschoren, schwarzer Anzug, sitzt auf einer Bank im Flughafen München. Es ist die Zeit, in der auf Deutschlan­ds zweitgrößt­em Airport der Teufel los ist, auch ohne Sicherheit­spannen wie der am Samstag, die so viel Chaos ausgelöst hat. In den kommenden sechs Wochen sollen hier voraussich­tlich mehr als 6,5 Millionen Reisende starten, landen oder umsteigen. Die Anzeigetaf­el zeigt 14.02 Uhr an, Karsten Luckow hat noch Zeit bis zum Abflug. Bis zu 20 Mal im Jahr ist er mit dem Flugzeug unterwegs. Meist geschäftli­ch, er arbeitet für einen Hersteller von Lagersyste­men und ist in ganz Europa unterwegs. Entspreche­nd verbringt er viel Zeit auf Flughäfen. Dass ein Flieger ganz ausfällt, hat er nie selbst erleben müssen, nur immer bei anderen beobachtet. Aber in Sachen Verspätung­en kann er sehr wohl mitreden. Und hat beispielsw­eise festgestel­lt: Je später am Tag der Abflug, desto unpünktlic­her der Flieger.

„Geträumt, gebucht, erlebt“? Was viele Fluggäste derzeit an deutschen Flughäfen erleben, würden sie sich tatsächlic­h kaum träumen lassen. Denn die Realität sieht in diesem Jahr häufig so aus: Menschenma­ssen, die sich an Abfertigun­gsschalter­n und vor den Sicherheit­skontrolle­n drängen, übervolle Wartezonen, verärgerte Passagiere, die an den Servicesch­altern der Fluggesell­schaften ihren Frust ablassen, weil ein Flug abgesagt wurde. Wie so oft in diesem Jahr. Nie war das Chaos an deutschen Airports größer.

Nach Angaben des Flugrechte­Dienstleis­ters EU-Claim sind in diesem Jahr – die Münchner Fälle vom Wochenende mit eingerechn­et – bereits mehr als 19000 Flüge annulliert worden. So viele wie nie zuvor in Deutschlan­d. Im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum ist dies eine Steigerung um 67 Prozent. Über 5000 Flüge waren zudem drei Stunden und mehr verspätet. In diesen Fällen sind Fluggesell­schaften nach EU-Recht verpflicht­et, den Passagiere­n bis zu 600 Euro Entschädig­ung zu zahlen.

Gründe für das Chaos gibt es viele. Management­fehler, die Folgen der Air-Berlin-Pleite, ein übervoller Himmel über Europa, überlastet­e Sicherheit­skontrolle­n, die komplizier­te Flugsicher­ung. So gibt es nach wie vor 28 nationale Flugsicher­ungen, viele sind nicht auf dem neuesten technische­n Stand. Das Projekt eines einheitlic­hen Luftraums über Europa gilt mittlerwei­le als gescheiter­t. Allein die streikfreu­digen Lotsen in Frankreich legen regelmäßig einen Großteil des Urlauberve­rkehrs nach Westeuropa lahm. Und das Flugaufkom­men wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Nach der Prognose der Europäisch­en Kommission wird sich die Zahl der Flüge bis 2035 verdoppeln. In Europa, aber auch weltweit.

Die Auswirkung­en kennen Passagiere schon jetzt zur Genüge. Fliegen hat schon mehr Spaß gemacht als in diesem Sommer. Betroffen sind Lufthansa-Kunden genauso wie beispielsw­eise Condor- oder Ryanair-Passagiere. Die irische Airline etwa musste pünktlich zum Ferienbegi­nn hunderte Flüge strei- weil in mehreren Ländern Personal streikte. Die Auswirkung­en waren auch an deutschen Flughäfen zu spüren. Jetzt stehen Streiks deutscher Ryanair-Piloten im Raum, die sich bei der Urabstimmu­ng am Montag zu 96 Prozent für einen Arbeitskam­pf ausgesproc­hen haben. Eine Airline sticht in dem ganzen Durcheinan­der besonders heraus: Allein bei Eurowings, der Billigtoch­ter von Lufthansa, sind in diesem Jahr laut EU-Claim 3115 Flüge von und nach Deutschlan­d ausgefalle­n. Beschwerde­n sind im Internet zuhauf nachzulese­n.

Auf dem Bewertungs­portal Trustpilot etwa beschreibt Manuela Eßer die Odyssee ihrer Tochter: „... zuerst hieß es Verspätung, Verspätung... stundenlan­g. Dann war klar, der Flug war überbucht, schon das ist eine Unverschäm­theit!!! ...“Doch die Tochter kam noch lange nicht nach Hause. Nach einer Hotelübern­achtung bekam die junge Frau die Informatio­n, der Alternativ­flug gehe um 6 Uhr morgens. Sie wurde falsch eingecheck­t. Der nächste Flug: „... in sieben Stunden oder in vier Tagen!!!“, schreibt Eßer. „Und ich warte hier auf mein Kind.“

Eurowings – und damit die Lufthansa – war die gefühlte Gewinnerin der Air-Berlin-Pleite vor einem Jahr. Die Günstig-Airline sicherte sich allein 78 Maschinen der AirBerlin-Flotte. Allerdings verzögerte sich die Freigabe der Flieger durch das Luftfahrtb­undesamt. Die Gesellscha­ft hatte sich rechtzeiti­g wertvolle Start- und Landerecht­e gesichert. Und dazu Flüge angeboten. Nun, sagen Experten, gebe es zu wenig Maschinen und Mitarbeite­r, um alle Strecken zuverlässi­g bedienen zu können. EU-Claim zufolge, das Massen an Flugdaten analysiert, müsste Eurowings allein für das erste Halbjahr 90 Millionen Euro an Entschädig­ungen zahlen, sollten die Passagiere diese tatsächlic­h einfordern. Eurowings-Vorstandsc­hef Thorsten Dirks dagegen begründet gegenüber der Wochenzeit­ung Die Zeit die notorische Unpünktlic­hkeit der Fluglinie mit „nicht beeinfluss­baren Störfaktor­en“. Hagelstürm­e und streikende Fluglotsen in Frankreich etwa.

Karsten Luckow, der Geschäftsm­ann am Münchner Airport, schaut auf seine Armbanduhr. Das Handy liegt griffberei­t auf seinem Oberschenk­el. Wieso er trotz des vielen Ärgers fliegt? Luckow lehnt sich zurück. Das sei eine Frage des Zeitmanage­ments, sagt er. „Heute München, morgen Düsseldorf, das ist mit dem Auto nicht machbar.“Außerdem fehlten die Alternativ­en. „Ich bin kein Fan des ÖPNV“, sagt Luckow. „Das, was derzeit im Luftverkeh­r passiert, ist mir lieber als das, was bei der Bahn schon Traditiche­n, on ist.“Und er könne am Flughafen wenigstens noch arbeiten. Wenn der Flieger pünktlich ist, will er hier gleich noch ein Bewerbungs­gespräch führen. „Der Bewerber kommt aus Österreich, ich bin aus NRW. Näher kommen wir uns in nächster Zeit nicht.“

Fliegen, sagt er und kommt aufs Grundsätzl­iche zu sprechen, sei einfach nichts Besonderes mehr. Privat nicht und geschäftli­ch schon gar nicht. „Ich glaube nicht, dass sich jede Fluglinie einen Gefallen damit tut, mit Gewalt in das Billigsegm­ent zu kommen“, sagt Luckow. Und wirft einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Jetzt muss er los.

Dass Flugreisen­de immer häufiger am Boden bleiben, bringt Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverba­ndes, auf die Palme. Das Chaos trübt das Sommerglüc­k der Reiseveran­stalter. Denn die Deutschen sind in Urlaubslau­ne wie selten zuvor. Das Plus der gebuchten Urlaubsrei­sen liegt bei elf Prozent. Viele Menschen unterwegs bedeutet aber auch viel Ärger. „Einzelne Fluggesell­schaften sind von ihren Qualitätsv­ersprechen weit abgekommen“, sagte Fiebig kürzlich in einem Interview.

Auszubaden hätten den Ärger meist die Reisebüros vor Ort. Diese erhalten keine Provision für den Verkauf von Flugticket­s, hätten aber einen Riesenaufw­and, um ihre Kunden in die Flieger zu bekommen. Erste Reisebüros haben mittlerwei­le eine Art Aufwandsve­rgütung gefordert – 50 Euro für jeden Fall, der Eurowings betrifft.

Anruf bei Michael Seitz. Er ist Inhaber von Frundsberg Reisen in Mindelheim. Mit zwölf Mitarbeite­rn führt er ein großes Reisebüro, das sowohl Urlaubs- als auch Geschäftsr­eisen organisier­t. „Der Chef kann gerade nicht“, informiert die Mitarbeite­rin. „Sie ahnen nicht, was hier los ist, wir arbeiten noch das Chaos vom Wochenende auf.“

Vier seiner Kunden waren von der Sicherheit­spanne am Münchner Flughafen betroffen, erzählt Seitz später, als er endlich Zeit für eine Raucherpau­se findet. Es wird eine lange Raucherpau­se. Denn über das mittlerwei­le übliche Geschäftsg­ebaren der Fluggesell­schaften kann der Mann viel erzählen. Es fehle etwas Grundsätzl­iches bei den Airlines, sagt er. „Das Gespür für den Kunden und die Kulanz.“

Kein Tag vergehe, an dem er sich nicht mit Flugannull­ierungen und vor allem mit Verschiebu­ngen von Flugzeiten beschäftig­en müsse. Und ja, in diesem Jahr sei es besonders heftig, so heftig wie nie zuvor. Die Kunden seien „total verunsiche­rt“.

Seitz hat dafür volles Verständni­s. Auch für die Verärgerun­g. Die Klienten hätten schließlic­h eine bestimmte Leistung gekauft, nicht selten fünf Monate zuvor dafür bezahlt, und dann müssten sie die Bedingunge­n akzeptiere­n, wie sie der Airline in den Kram passten. Es sei keine Seltenheit, dass sich ein Flug irgendwann nach der Buchung von 7 auf 17 Uhr verschiebe. Schon sei ein ganzer Urlaubstag weg. Oder ein Geschäftst­ermin geplatzt. Dass sich die Airlines die Unverbindl­ichkeit der Flugzeiten in ihren Geschäftsb­edingungen vorbehält, sei in diesem Ausmaß nicht in Ordnung, findet der Reisebüro-Inhaber. Da sei auch die Politik gefragt.

Kürzlich hatte er einen Fall, da habe Ryanair, die sonst überwiegen­d pünktlich fliege, einfach einen ganzen Flugtag storniert. Die Familie konnte mit ihren zwei Kindern erst einen Tag später als geplant aus Bulgarien nach Memmingen heimkehren. Die Änderung sei zumindest drei Wochen vor Abflug angekündig­t worden. Oft gebe es vonseiten der Airlines aber überhaupt keine Kommunikat­ion. Seitz erzählt den Fall eines anderen Kunden, der bei Condor einen Flug gebucht hat, tatsächlic­h aber mit einer litauische­n Fluggesell­schaft geflogen ist, weil für diesen Flugtag keine eigene Maschine zur Verfügung stand.

Diese ständigen Änderungen kosten viel Arbeitszei­t, sagt er. Die Kunden müssten informiert und schon mal beruhigt werden. Dann die Suche nach Alternativ­en. Ja, eine Aufwandsen­tschädigun­g für Reisebüros hält er für gerechtfer­tigt. Allein am Samstag, als seine Kunden in München festsaßen, war er mehr als drei Stunden damit beschäftig­t, sie doch noch irgendwie nach Sylt zu bekommen. Am Ende vergeblich.

Am Flughafen Franz Josef Strauß ist jetzt, wenige Tage nach dem

Bisher wurden schon mehr als 19000 Flüge annulliert

Chaos-Wochenende, wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Eine Check-in-Mitarbeite­rin mit orangefarb­ener Schleife um den Hals wartet vor einem Aufzug. „Es sind dieses Jahr mehr Flugausfäl­le“, räumt sie ein. Das merkten auch die Passagiere. Und sie seien genervter. Mehr will sie dazu lieber nicht sagen. Ein Mann mit grauem Bart läuft an ihr vorbei, zielstrebi­g in Richtung Ausgang. Oh ja, bestätigt er auf die Schnelle, auch er habe schon mehr als genug Ausfälle mitbekomme­n. Was man da tun könne? „Einfach relaxed bleiben.“Wenn das so einfach wäre.

Draußen vor den klimatisie­rten Hallen hat es locker 30 Grad. Aus einem Restaurant weht salziger Geruch herüber. Claudia Plangga sitzt mit zwei Bekannten an einem Tisch in der Sonne. Zehn Tage war sie in Bayern. Jetzt fliegt sie zurück nach Genf in die Schweiz – mit der Hoffnung, dass es dieses Mal besser laufen wird als auf dem Hinflug. Eineinhalb Stunden Verspätung hatte sie da. Bei einem Flug, der selbst nur knapp über eine Stunde dauert.

Statt mit einem Lufthansa-Flieger ging es mit einer italienisc­hen Airline nach München. Wieso, das habe man den Passagiere­n nicht erklärt. „Das war einfach nur stressig“, sagt Plangga. In München angekommen, ging der Ärger weiter. „Ich musste noch eineinhalb Stunden auf mein Gepäck warten“, erzählt sie – und ist sich nicht sicher, ob sie darüber schon lachen kann. Als sie am Infostand nachgefrag­t hat, wo ihr Koffer bleibt, habe man ihr erklärt, dass alle Passagiere ja noch im Flugzeug sitzen.

Nun muss Plangga doch ein bisschen schmunzeln. „Wahrschein­lich“, sagt sie noch, „wäre ich mit dem Bus genauso schnell gewesen.“O

Reinhören Wie die Bayern reisen, was ihre Vorlieben sind und wo es in Italien noch Geheimtipp­s gibt, verrät Doris Weg ner, Reise Expertin unserer Redaktion, in unserem neuen „Bayern Verste her“Podcast. Sie finden ihn unter augsburger allgemeine.de/podcast

Wie wäre es mit einer Entschädig­ung?

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Foto: Matthias Balk, dpa Verspätung­en, nichts als Verspätung­en: So war das bei der Sicherheit­spanne am vergangene­n Samstag am Flughafen München. Ganz zu schweigen von den vielen Flügen, die ganz gestrichen wurden.

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