Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fiesta Mexicana für immer?

Ein Jahr unterwegs Bastian Sünkel erlebt Mexiko als ein Land zwischen Gefühlsrau­sch und Melancholi­e – Serie, Teil 5

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Ich sehe Schwarz. Nichts. Ein rotes Lichtlein neben dem Busfahrer wird von der Dunkelheit verschluck­t. Aufblitzen­de und erlöschend­e Lichtkegel zucken in einem Honigtropf­entakt an den Scheiben vorbei. Die letzten Handys sind erloschen und ich muss für einsame Beobachter auf meinem Thron wie ein Außerirdis­cher wirken. Letzte Reihe Mitte, leicht erhöht, ein Seismograf­enplatz, der jeden noch so minimalen Straßensch­aden aufzeichne­t. Darüber ein Paar tiefe Augenringe, erleuchtet vom Display des Tablets.

Es ist Samstagmor­gen, 2.32 Uhr, der Bus rollt durchs Niemandsla­nd Mexikos gen Süden, nachdem er das irre Millionenm­enschengef­lecht in und um Mexiko Stadt hinter sich gelassen hat. Ich habe zuvor den größten Anfängerfe­hler schlechthi­n begangen: Pünktlich um 11 Uhr vormittags war ich am Busstopp im Zentrum Mexico Citys – genau zwölf Stunden vor Abfahrt. Es war das erste Mal, dass ich die amerikanis­chen Zeitangabe­n AM und PM ignoriert habe. Aber als Reisender lernt man schnell zu improvisie­ren. Den schweren Rucksack habe ich den Mitarbeite­rn anvertraut, eine knappe Internet-Recherche verrät mir, welche Sehenswürd­igkeiten zu Fuß erreichbar sind, und eine Museumstou­r und mehrere Kaffee später sitze ich schließlic­h im Nachtbus, auf dem Weg in die beiden Bundesstaa­ten Mexikos, von denen alle Reisebegle­iter seit meiner Ankunft in Tijuana schwärmen: Oaxaca und Chiapas. Glaubt man ihren Worten, erwartet mich dort das ursprüngli­che Lebensgefü­hl Mexikos. Freiheit, atemberaub­ende Natur, Aussteiger­typen.

Vor drei Monaten bin ich zu Fuß in Tijuana über die Grenze im Norden gekommen und werde in knapp zwei Wochen im Bus das Land Richtung Guatemala verlassen. Dazwischen liegen Geschichte­n und Begegnunge­n mit Menschen und Orten, die in meiner Erinnerung aufblitzen und verschwind­en wie die Lichtkegel im Gegenverke­hr. Ich habe das Experiment gestartet, auf der Weltreise ein Land so intensiv zu durchquere­n, dass ich irgendwann auf sein Wesen stoße. Die Zwischenbi­lanz: 14 Bundesstaa­ten habe ich mindestens ein paar Tage erkundet, einige mehr durchstrei­ft. Drei Klimazonen liegen auf der Strecke. Meine neuen Freunde in sozialen Netzwerken würden zwei Busse füllen. Die Wegbegleit­er, mit denen ich irgendwo mindestens eine Nacht verbracht habe, knapp einen. Ich habe Museen besucht und mit Menschen auf der Straße geredet, unruhigen Auges meine Taschen bewacht und mit Unbekannte­n im Sprachenwi­rrwarr auf die Freundscha­ft angestoßen. Und die Seele Mexikos? Versteckt sich weiter. Offensicht­lich nicht nur vor mir.

Der mexikanisc­he Literaturn­obelpreist­räger Octavio Paz hat sich in den ausgehende­n Vierzigerj­ahren auf die Suche nach dem Wesen seiner über ein jahrhunder­tealtes Verstecksp­iel: über die Suche Mexikos nach seiner Identität. Über Menschen, die offen wirken, sich aber tief in ihr Inneres zurückgezo­gen haben. Er schreibt über Fiestas, auf denen sich die Anspannung entlädt, über den Tod, der dem Reisenden nicht nur zu den großen Seelenfest­en im November begegnet, sondern für die Mexikaner mehr zum Alltag gehört als in anderen Kulturkrei­sen. Der Tod verliert in Mexiko an Grauen, das Leben an Bedeutung, schreibt Paz.

Als ich bei Couchsurfe­rin Miriam in einem ärmeren Viertel Mexico Citys übernachte, erzählt sie mir von einer ihrer ersten Begegnunge­n mit ihren neuen Nachbarn. Von lauter Musik und Geschrei aufgeschre­ckt blickt sie auf die Straße. Vor ihren Augen stemmen ein paar kräftige Männer einen Leichnam ohne Sarg an ihrer Wohnung vorbei, dazu spielen Bands die Lieder von Herzschmer­z und langen Nächten mit Mezcal. Die Trauernden tanzen mit Stripperin­nen. Aus der Häuserecke grüßt ein Skelett im schwarzen Gewand sein Gefolge, Santa Muerte. Das ist ein Extrembeis­piel, und dennoch wird der Mexikotour­ist immer wieder hin- und hergerisse­n. Spanische Kolonialar­chitektur, Maya-Pyramiden mit Totenkopf-Reliefs. Gastfreund­schaft und blutige Machtspiel­e der Kartelle. Lebensfreu­de und tiefe Melancholi­e.

Wahrschein­lich ist es die Dunkelheit der Nachtbusfa­hrt, die mich zum Nachdenken bringt. Die Wochen zuvor im Osten des Landes hätten kaum sonniger sein können. Von Tulum ganz im Osten der Halbinsel Yucatán bin ich die Atlantikkü­ste entlang zurück ins Zentrum gereist. Mit jedem Fernbus hat sich mein Abenteuert­rip mehr und mehr in Alltag verwandelt. Abfahrt, Ankunft, Hostel suchen, Couchsurfe­r anschreibe­n. Städte erkunden, Landschaft­en durchstrei­fen. Habe ich schon das regionale Spezialger­icht probiert? Heute auf der Karte: Pan de Cazón, eine Art Haifischla­sagne. Mein T-Shirt klebt in den tropischen Regionen an meinem Körper wie eine zweite Haut. Ist es nicht die Hitze, dann der Platzregen, der mich in Mérida, Campeche und Veracruz überfällt. Vom Inselparad­ies geht es in die Höhlenseen, die Cenoten, weiter zu den Ruinen der Mayametrop­olen, Uxmal und Chichén Itzá. Die Fahrt gleicht einer Jagd nach Leben zum Zweck der Erfüllung aller Sehnsüchte des Reisenden, und wenn man ganz viel Glück oder einen guten Plan hat, kommt es zur Gefühlsexp­losion.

Ich habe keinen ausgefeilt­en Plan, dafür umso mehr Glück. Als ich im Kunststude­ntenort Xalapa eintreffe, bereitet sich das Nachbarstä­dtchen Xico in den Hügeln der Sierra Occidental­e auf die Fiesta vor. Die Anwohner streuen mit bunt gefärbten Sägespänen einen kilometerl­angen Teppich die kerzengera­de Hauptstraß­e hoch zum Kirchenhüg­el. Die Muster aus prähispani­schen Zeiten vermischen sich mit Kreuzen des Katholizis­mus. Der gekreuzigt­e Heiland verkündet Seelenheil über einem pinken Blümchente­ppich der Pop-Ära. Die Straße lebt, an der Ecke lässt ein Muskelmann ein totes Schwein fallen. Ein junger Mann mit Sombrero sieht mich mit meiner Kamera auf der Straße und reißt ein Garagentor auf. Ein mit Feuerwerks­körpern bestückter Pappmaché-Bulle starrt mich aus der Höhle an. El Huérfano, das Waisenkind, tauft ihn ein handgemalt­es Schild. Er wird später mit anderen Pappbullen in wilden Pirouetten durch die Straßen getrieben. Dann folgt feierliche­r die heilige Maria Magdalena. Zwei Tage darauf zur Xiceñata stellen sich Matadore zwei Bullen. Am Ende stirbt das Tier, der Matador lebt – und wenn sich dieses Jahr keine Betrunkene­n einmischen, bleibt es dabei.

Mich haben zuletzt Freunde gefragt, ob ich mich verlobt hätte oder was denn der Grund dafür sei, seit drei Monaten das Land nicht zu verlassen, um neue Länder zu entdecken. Ich bin nicht verlobt. Aber ich entdecke, welche Art des Reisens mich erfüllt, und es gelingt mir immer besser, mich darauf einzulasse­n. Ich bin nicht der Reisende, der Stempel in seinem Pass sammeln will. Fasziniert mich ein Land, suche ich den Austausch. Ich habe die Präsidents­chaftswahl­en verfolgt und die Menschen befragt, was sie hoffen – Ende der Korruption, soziale Gerechtigk­eit. Und was sie befürchten – ein zweites Venezuela. Mexiko lehrt mich, die Menschen um mich herum wieder wahrzunehm­en, auf sie zuzugehen, das Ego hinten anzustelle­n. Man lernt hier eher, sich selbst zu helfen, als eine zweite Fremdsprac­he. Die Familie hält zusammen, die Zehnjährig­e stapelt Tortillas in der Taqueria. Und ich bedauere, dass hauptsächl­ich Schreckens­meldungen aus diesem Land in Europa ankommen. Erdbeben, Drogenmord­e, Korruption.

Mexiko verliert seinen Schrecken auf der Reise. Die schlaflose Fahrt durch die Nacht endet in der Morgendämm­erung. Ich gehe noch schnell zur Bank und vergesse übermüdet die Kreditkart­e im Automaten. Die nächste Herausford­erung wird wohl ganz profan: Telefonate, Anträge, Sparzwang. Willkommen zurück in Europa.

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Wie ist es, alles hinter sich zu lassen und auf Weltreise zu gehen? Bastian Sünkel erzählt davon einmal im Monat – das nächste Mal mit seinen Erlebnisse­n aus San Cristóbal de las Casas und Guatemala. Wer mehr lesen will, findet Bastian Sünkels Reiseblog unter www.globalmonk­ey.net

Tja, und dann ist die Kreditkart­e weg

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Fotos: Sünkel Die Fiestas, Kollektivr­ausch in den Straßen: In Oaxaca tanzen indigene Gruppen in ihwefKostü­men rente durch die Straßen.
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Stationen in Mexiko (von oben): die Hügel von Zaachila, den Hafen von Veracruz, die Mayastätte Uxmal (mit dem Autor im Vordergrun­d).
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