Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Lust am Extrem
Leitartikel Wütender alter Mann? Linksversiffter Gutmensch? Wir neigen dazu, uns gegenseitig in Schubladen zu stecken. Dabei brauchen wir die offene Debatte
Es ist eine Schublade, so tief wie der Grand Canyon, mit Wänden so steil wie die EigerNordwand. Wer einmal in ihr steckt, muss kraxeln, um wieder rauszukommen: Der wütende alte Mann geht um. Ein Kampfbegriff, gerne mit dem Zusatz „weiß“versehen, was in Amerika mit seiner heterogenen Bevölkerung noch Sinn ergeben mag, im homogenen Deutschland aber eine ins Groteske abgleitende Unwucht enthält.
Spätestens seit der Aufstieg der AfD, der Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten die Politik ordentlich durcheinandergewirbelt haben, ist der wütende alte Mann wahlweise als Quell allen Übels oder als unschuldig gescholtenes Opfer biblischen Ausmaßes entlarvt. Es ist eine Mischung aus bizarrer Selbstgeißelung und dem Anspruch auf Unfehlbarkeit der eigenen Meinung, die uns seit einiger Zeit erfasst hat und die mit jeder Debatte wieder aufflammt. Dabei sollte der Typus des wütenden Mannes an sich speziell für uns Bayern doch eigentlich nichts Neues sein. Ein Grantler eben, wie es ihn schon immer gab. Sogar geschlechterübergreifend.
Doch mit dem neuen schmutzigen Etikett versehen, schwindet alles, was an Restsympathie-Werten vorhanden war. Der wütende alte weiße Mann grummelt plötzlich nicht nur vor sich hin, sondern wird mit seiner Verweigerungshaltung, die eigene Komfortzone zu verlassen, als Problemfall diagnostiziert. Und während er selbst damit noch kokettiert, lautet die empfohlene Therapie für alle anderen: Quarantäne. Isolierstation. Das mag für den ersten Moment bequem sein, könnte sich aber langfristig als äußerst fatal erweisen. Denn nur durch sich reibende Meinungen, durch Widerspruch und bisweilen auch unangenehme Debatten, die man bevorzugt miteinander führt und nicht nur in der eigenen Blase, kann eine Gesellschaft reifen.
Leider breitet sich eine geradezu zerstörerische Lust aus, im jeweils anderen das Extrem zu sehen und sich abzukapseln. Hier der braune Nazi, dort der linksgrünversiffte Gutmensch. Hier der greise Verhinderer, dort der junge Welteneroberer. Hier der zum Terror neigende Muslim, dort die hinterwäldlerischen Kreuz-Aufhänger. Hier der Rassist, dort der edle Fremde. Auch wenn es eintönig erscheinen mag: Weder die Verteufelung des einen noch die Idealisierung des anderen werden der Wirklichkeit gerecht. Denn egal, ob es um den Aufstieg der AfD geht, um Sexismus gegenüber Frauen oder um die Rassismusvorwürfe von Mesut Özil: Deutschland überdreht und vergisst darüber, dass die Mehrheit im Land doch eigentlich recht vernünftig ist – zumindest so lange noch, bis sich die immer wieder vorgetragene Prognose vom Untergang irgendwann womöglich verselbstständigt und erfüllt. Allen Problemen zum Trotz: Die Gleichstellung von Frauen macht Fortschritte, Antisemitismus wird geächtet, sogar die Integration macht Fortschritte. Nicht die Ränder sind es, die dieses Land prägen, sondern seine Mitte.
Ohne Zweifel: Die Republik erlebt gerade eine Zeit, in der vieles in Bewegung gerät. Rollenbilder verändern sich, Machtverhältnisse bröckeln, die Mehrheiten bei den Parteien verschieben sich, selbst das Deutschsein, das eigentlich die leichteste aller Übungen sein sollte, ist nicht mehr selbstverständlich. Aber wie befremdlich wäre es, würden all diese Transformationsprozesse geräuschlos vonstattengehen oder gar von vermeintlichen Eliten handstreichartig zum neuen Status quo erkoren. Man mag es Debattenkultur nennen oder wie auch immer. Aber jeder gesellschaftliche Konsens muss immer wieder ausgehandelt werden. Mitreden darf dabei übrigens jeder – die alten Männer und die jungen Frauen.
Die Mehrheit im Land neigt noch immer zur Vernunft